Besinnung und Begeisterung. Das Studieren nach Wilhelm von Humboldts Bildungsbegriff
Helmut Schelsky unterstellt in seiner Schrift »Einsamkeit und Freiheit«, dass die ›klassische deutsche Universitätsliteratur‹ von Humboldt, Fichte, Schleiermacher und anderen zentral für seine Reflexion auf die Idee der Universität im Hinblick auf die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit ist. Er benutzt diese Autoren also als Folie für die Beurteilung der gegenwärtigen Verhältnisse. Das geschieht nicht willkürlich. Denn die vor 200 Jahren mehr oder weniger explizit (und öffentlich) entwickelten idealen Grundsätze der modernen Forschungsuniversität lassen immer auch einen gewissen Trübsinn über die realen Verhältnisse der gegenwärtigen Hochschullandschaft aufkommen. Doch vielleicht lohnt es sich, einen Schritt zurückzutreten und nochmals einen Blick auf einen bildungstheoretischen Grundgedanken zu werfen, bevor er zu hochschulpolitischer Kritik herangezogen wird. Wie etwa war der Homo studens idealiter in der modernen Forschungsuniversität gedacht? Und insbesondere welche Voraussetzungen zur Realisierung waren darin angelegt?
Ich möchte mich auf die Ausführungen Wilhelm von Humboldts beschränken. Der Ansatz zur Beantwortung der Frage nach dem Wesen des Homo studens liegt hier in der Rückbeziehung des universitären Studiums auf Humboldts bildungstheoretische Überlegungen. Daran zeigt sich, was den Menschen im Allgemeinen und als einen studierenden im Besonderen ausmacht. Denn einerseits bezieht sich der Bildungsbegriff auf den Menschen überhaupt, andererseits soll gerade das Studieren das Paradigma für diesen Prozess sein. Daher muss die Bestimmung des Studiums (als formale Festlegung des Studierens) die relevanten anthropologischen Vorstellungen beinhalten. Zur Ableitung des Studierens aus dem Bildungsbegriff muss also zunächst dieser erläutert werden.
1. Humboldts Bildungsbegriff
Humboldts Überlegungen zum Bildungsbegriff sind sehr umfangreich und umfassen gesellschaftliche, geschichtliche, ästhetische und sprachliche Aspekte. Alle diese Überlegungen beruhen jedoch auf einem anthropologischen Grundverständnis, das jedes menschliche Individuum als Ganzes kennzeichnet und zugleich den Grund für die Verschiedenheit menschlicher Individuen, d. h. ihre Individualität, erklärt. Allerdings ist die Individualität (oder eine bestimmte Art derselben) nicht selbst ein Bildungsziel, sondern bezeichnet eher die Form, in der der Bildungsprozess sich vollzieht. Dennoch kann sie auch selbst zum Zweck des Handelns gemacht werden, wie sich noch zeigen wird. Um Bildung als individuelle Entwicklung zu verstehen, ist daher auch das Verhältnis zwischen der Form und dem Inhalt der Bildung zu klären.
In dem nachträglich so betitelten Fragment »Theorie der Bildung des Menschen« erläutert Humboldt seinen Bildungsbegriff. Der sich bildende Mensch ist wesentlich durch zwei Merkmale gekennzeichnet: Er »will« die »Kräfte der menschlichen Natur stärken und erhöhen« und, zweitens, »seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen«1. Letzteres scheint eine Folge des ersteren zu sein, wenn nicht sogar die qualitative Erhöhung der Kräfte selbst den Wert des Wesens ausdrücken soll. Die spezifisch menschlichen Kräfte wie z. B. Verstand, Einbildungskraft, Anschauung2 wie auch die rein organischen sind die natürlichen Voraussetzungen für einen spezifisch menschlichen Lebensvollzug. Es sind die Fähigkeiten im Sinne der aristotelischen Dynamis, die sich im Laufe des Lebens entwickeln und zugleich als Denken und Handeln wirksam werden (Aristoteles’ Energeia). Die Äußerung im Denken und Handeln ist zwar wesentlich auf die Welt bezogen, doch wirkt sie sich immer auch auf die Fähigkeiten selbst aus. Insofern liegt in jedem Lebensvollzug ein Prozess des Sich-Bildens, der die eigene Natur stärkt, wenn die Fähigkeiten entwickelt werden. Diese Bezugnahme auf sich selbst bedarf daher immer einer theoretischen oder praktischen (gelungenen oder misslungenen) Bezugnahme auf Objekte in der Welt und ist insofern nur mittelbar. Diese Rückwirkung auf die eigenen Fähigkeiten kann nicht unterbunden werden. »Rein und in seiner Endabsicht betrachtet, ist sein Denken immer nur ein Versuch seines Geistes, vor sich selbst verständlich, sein Handeln ein Versuch seines Willens, in sich frei und unabhängig zu werden, seine ganze äussre Geschäftigkeit überhaupt aber nur ein Streben, nicht in sich müssig zu bleiben.«3 Zwischen Ich und Welt besteht eine »Wechselwirkung«, in der der Mensch dem Stoff der Welt seine begriffliche oder physische Form verleiht, sodass im Weltbezug durch die Gegenstandskonstitution eine Einheit zwischen dem Subjekt und einem Objekt hergestellt wird.4
Damit ist der »äußere« Zweck einer Handlung nicht ihre letzte Bestimmung, sondern eben die dadurch erfolgte Weiterentwicklung des Menschen und damit der Mensch selbst. Weil dieses Verhältnis aber im Gegenstandsbezug liegt, beziehen sich Humboldts anthropologische Aussagen derart auf den Menschen, dass sie die Ebene explizieren, die »aller besonderen Arten der Thätigkeit« immanent ist.5 Der Bildungsprozess ist zwar Teil des menschlichen Lebensvollzugs, doch ist dieser nur dann ein Bildungsprozess, wenn sich die menschlichen Fähigkeiten darin entwickeln. Bei rein mechanischen Abläufen und routinemäßigen Handlungen kann man hingegen nicht von einem Bildungsprozess sprechen, auch wenn Humboldt im Zitat von allen Handlungen spricht. Denn im bildenden Lebensvollzug »sucht er [der Mensch], soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.«6 Sobald sich die gleichen Handlungen nur noch wiederholen, nimmt die Erfahrung von Gegenständen in der Welt nicht mehr zu und damit stockt auch der Bildungsprozess.
Die immanente Selbstbezüglichkeit im Handeln ist nicht mit dem egoistischen Handeln zu verwechseln. Denn in diesem Fall ist es der bestimmte gesetzte Zweck, der dem Handelnden einen konkreten Vorteil (eventuell auf Kosten der Mitmenschen) einbringt, etwa Reichtum. Diesen Vorteil kann man wiederum für weitere Handlungen nutzen. Allerdings liegt der Nutzen der Handlung auf der inhaltlichen Ebene und tritt im Scheitern nicht ein. Auf der formalen Ebene können egoistische Handlungen, so scheint es zunächst, auch die eigenen Fähigkeiten weiterentwickeln und damit bildend sein – gerade weil die Bildung nicht von bestimmten Zwecken abhängt. Doch eine solche Handlung entspricht nicht im vollen Sinne der Bildung, sondern stellt vielmehr ein Handeln aus Klugheit im kantischen Sinne dar. Dem Handeln liegen hierbei Regeln der erfolgreichen Zweckrealisierung zugrunde, die sich der Einzelne angeeignet hat. Darin drückt sich nur die technisch-praktische Dimension der Bildung aus.
Natürlich sind die Entwicklungsmöglichkeiten äußerst vielfältig und davon abhängig, auf welche der verfügbaren Objekte der Welt der Mensch sich theoretisch oder praktisch bezieht. Vergangene Entscheidungen beschränken gegenwärtige Möglichkeiten. Doch handelt es sich hierbei entweder um bloß äußere Umstände, die keine grundlegende Relevanz für die Bildung haben können (Extremfälle wie große Armut sind eine Besonderheit, auf die sich der Begriff der Bildung gerade nicht paradigmatisch beziehen sollte), oder sie sind selbst aus dem Bildungsprozess abgeleitet.
Darüber hinaus gibt es aber Unterschiede zwischen Menschen, die sich auf ein und dasselbe Objekt beziehen. Denn die Fähigkeiten eines jeden wirken mit, so Humboldt, unterschiedlicher »Energie« im Erkennen und Handeln. »Es giebt keine freie und kraftvolle Aeusserung unsrer Fähigkeiten ohne eine sorgfältige Bewahrung unsrer ursprünglichen Naturanlagen; keine Energie ohne Individualität. Deswegen ist es so nothwendig, dass eine Charakteristik [des menschlichen Gemüths in seinen möglichen Anlagen und in den wirklichen Verschiedenheiten, welche die Erfahrung aufzeigt; L. O.], dem menschlichen Geiste die Möglichkeit vorzeichne, mannigfaltige Bahnen zu verfolgen, ohne sich darum von dem einfachen Ziel allgemeiner Vollkommenheit zu entfernen, sondern demselben vielmehr von verschiedenen Seiten entgegenzueilen.«7 D. h., die Erkenntnis und die Bearbeitung eines Gegenstandes sind abhängig vom individuellen Grad der Entwicklung der natürlichen menschlichen Fähigkeiten. Je nach dem Ausmaß der Entwicklung der Fähigkeiten kann der Mensch ein Objekt nicht bloß wahrnehmen, sondern es bis hin zu seiner Idealform erkennen, wie dies nach Humboldt in der Kunst, v. a. in der griechischen, der Fall ist. So lässt sich auch die Begeisterung für eine Sache durch die Fähigkeit, sie in ihrer vollkommenen Idealform zu betrachten, erklären. (Zenkert sieht darin die »verschwiegene Ethik Humboldts«8). Individualität ist also nicht dinglich definiert, sondern sie liegt im Vollzug eines Lebens, in dem sich allgemeine menschliche Fähigkeiten auf eine spezifische Weise entwickeln und je nach Grad der Entwicklung wirksam sind. Sie ist auch nicht über einen bestimmten Inhalt, etwa ein individuelles Selbstverständnis, definiert.
Humboldt bestimmt die in der Bezugnahme auf die Welt liegende Individualität folgendermaßen: »Der Mensch stellt sich der Welt immer in Einheit gegenüber. Es ist immer dieselbe Richtung, dasselbe Ziel, dasselbe Maß der Bewegung, in welchen er die Gegenstände erfasst und behandelt. Auf dieser Einheit beruht seine Individualität.«9 Es ist recht schwer zu verstehen, was die Einheitlichkeit des Menschen und die Gleichförmigkeit des Gegenstandsbezugs genau sein soll. Zunächst ist so viel klar, dass sich der Mensch als erkennendes und handelndes Subjekt im Bezug auf ein Objekt konstituiert. Die natürlichen Fähigkeiten werden aktualisiert und somit das eigene Leben auf individuelle Weise vollzogen. Unklar ist, was die Gleichförmigkeit ausmacht, gerade wenn sich die Fähigkeiten immer weiter entwickeln sollen. Aber eben darin mag die Gleichförmigkeit ihren Ausdruck finden, nämlich als das konstante Maß an Energie, mit der dies im theoretischen und praktischen Gegenstandsbezug geschieht. Sie wäre damit eine Konstante in der individuellen Natur, kann aber in unterschiedlichen Naturen unterschiedlich sein.
Diese Beschreibung stellt jedoch nur die reine Vollzugsebene dar. Wenn Bildung bei Humboldt auch die geistigen Fähigkeiten des Menschen mit einbeziehen soll, kann die unmittelbare Bezugnahme auf Gegenstände nicht alles sein. Denn dann würde sich der Mensch nicht von Tieren unterscheiden. Die Erweiterung dieses Modells um die repräsentationale Dimension liegt bei Humboldt in der Sprache.
In »Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts« definiert er Sprache als »Tätigkeit (Energeia)«10. Er begründet dies folgendermaßen: »Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedanken [sic!] fähig zu machen.«11 Die Sprachtätigkeit ist somit ein rein individueller Akt, dessen Vollzug wesentlich davon abhängt, ob der spezifische Sprecher die »Energie« dazu aufwendet. D. h. der Sprechakt unterliegt selbst natürlichen Voraussetzungen. Seine Individualität liegt nicht zwingend in einem besonders kreativen Sprachgebrauch (kann sich aber darin ausdrücken). Sprache ist damit nur dann als ein System grammatischer Regeln anzusehen, wenn diese aus der Sprachpraxis abgeleitet sind. So erläutert er diese Definition im Hinblick auf die Gesamtheit der Sprecher: »Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen.«12 Diese Totalität kann keine vorgängige Einheit darstellen, aus der heraus individuelle Sprechakte artikuliert werden. Vielmehr handelt es sich um die Summe der Sprecher einer Sprache. Und die Identität der Sprache kann nur aus der Ähnlichkeit des Sprechens, also der Lautartikulation, abgeleitet werden. Als ein Kriterium dient sicherlich auch das Verstehen eines anderen Sprechers, aber darauf soll hier nicht eingegangen werden.
Die Sprache ist aber nicht nur die Äußerung von Lauten, sondern »das bildende Organ des Gedanken [sic!].«13 Dadurch wird die Reflexion in der Bezugnahme auf Gegenstände möglich, die nicht mehr rein über die Wahrnehmung, sondern begrifflich erfasst werden. Kurz und knapp führt Humboldt so über die Sprache das »Selbstbewusstsein« ein.14 Die Frage ist nun, ob und inwiefern die Sprache die Individualität des unmittelbaren Lebensvollzugs ausdrücken kann. Diese ist nach Humboldt auf dieser inhaltlichen Ebene der Gedanken nicht mehr zu finden: »Ohne sie, als Hülfsmittel zu gebrauchen, wäre jeder Versuch über Nationaleigenthümlichkeiten vergeblich, da nur in der Sprache sich der ganze Charakter ausprägt, und zugleich in ihr, als dem allgemeinen Verständigungsvehikel des Volks, die einzelnen Individualitäten zur Sichtbarwerdung des Allgemeinen untergehen.«15 Die individuelle Sprachkompetenz verliert demnach im Verständigungsprozess ihre Individualität, die sie im Vollzug des Sprechaktes hat. Und gleiches gilt für die sinnliche Ebene der Wahrnehmung eines Gegenstandes. Auf diese Weise konstituiert sich die Ebene sprachlicher Allgemeinheit aus der allgemeinen Sprachpraxis. Darin liegen aber auch die Möglichkeiten und Grenzen der Verständigung. Diese müssen im (individuellen) Sprechen berücksichtigt werden und gehen ihm also voraus. In diesem Verständnis von Humboldt hätte das zur Folge, dass auch im Sprechen eine Wechselwirkung zwischen dem einzelnen Sprecher und der Sprachgemeinschaft besteht und damit die individuelle Äußerung auch schon sozial geprägt ist. Und Humboldts Rede vom sprachlich konstituierten Selbstbewusstsein deutet die Einsicht an, dass die allgemeine Ebene sprachlicher Gehalte für den individuellen Lebensvollzug bestimmend ist. D. h. die (Objekte repräsentierenden) Gedanken sind allgemein. Denn andernfalls wäre die Handlung dem Bewusstsein davon vorgängig und dann würde sie nur noch als ein vergangenes Geschehen wahrgenommen.
Die Entwicklung der Sprachkompetenz hat somit eine rein individuelle Ebene: die der Lautartikulation. Zugleich, und untrennbar damit verbunden, werden in der Sprache geistige Gehalte durch diese Laute formuliert. Diese Gehalte sind einerseits ebenfalls Resultat der Entwicklung individueller Fähigkeiten. Indem sie von einzelnen Menschen gedacht werden, haben sie eine individuelle Ebene. Allerdings gehen die Gehalte inhaltlich aus der allgemeinen Sprachpraxis hervor, an der der einzelne Sprecher teilnimmt. Der Untergang der Individualitäten im Allgemeinen, von dem Humboldt spricht, scheint nun deren Ende zu bedeuten.
Der Eindruck des Verlustes der Individualität im geistigen Gehalt der Sprache ist daher als ein Absehen davon und nicht als deren Verschwinden zu verstehen. Die Individualität bleibt auf der formalen Ebene des Vollzugs und ist für die Realisierung des geistigen Gehaltes verantwortlich. Doch auch diese Formung ist schon sozial durch die jeweiligen Kommunikationsbedingungen sowie die Wortbedeutungen bestimmt. Humboldt erkennt später, dass die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten zunächst gar nicht der eigenen Kontrolle unterliegt und das (staatliche) Schulwesen die Aufgabe der »Uebung der Kräfte« hat.16 Denn hierzu bedarf es gerade der Fähigkeiten, die sich erst noch entwickeln. Daher unterliegt die Entwicklung zunächst der fremden Kontrolle von Erziehern, die jeweils bestimmten Erziehungsvorstellungen und -zielen folgen und damit die Entwicklung individueller Fähigkeiten je schon bestehenden Wertvorstellungen unterwerfen. Die Fähigkeit zur Beurteilung der jeweils angemessenen Handlung oder Äußerung geht wiederum aus der Erziehung hervor und drückt die individuelle Selbständigkeit im Verhältnis zu den jeweils geltenden Normen aus. Die Individualität liegt somit in dem Grad der Ausbildung der Fähigkeiten bis zur eigenständigen Entwicklung derselben innerhalb einer sozialen Ordnung. Dazu gehört gerade auch die Einsicht in diese Ordnung selbst.
Die soziale Ordnung ist andererseits von der Befolgung ihrer Normen durch die Individuen abhängig. Denn allgemeine Normen müssen in den individuellen Lebensvollzügen realisiert werden, um tatsächlich zu gelten. Individualität und die soziale Dimension geltender Normen sind damit keine Gegensätze, sondern sich wechselseitig bedingende Momente ihrer Einheit.
So ist auch bei Humboldt Bildung immer an spezifische Inhalte gebunden, doch macht ein bestimmter Inhalt nicht die Bildung eines Menschen aus, sondern sein Niveau an Fähigkeiten, sich Inhalte anzueignen und mit ihnen umzugehen. Die Person soll gerade nicht in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen aufgehen, sondern sich in ihnen selbständig verhalten. Daher gibt es für Humboldt auch kein bestimmtes Bildungsziel. (Die Individualität als spezifische Verschiedenheit inhaltlich zu deuten und zum Zweck des eigenen Handelns zu machen – wie Clemens Menze dies tut –, führt letztlich notwendig in einen Determinismus, gegen den Menze im Übrigen selbst argumentiert.17 Daher kann er auch nicht die Konstitution individueller geistiger Gehalte erklären.) Gesellschaftlich formulierte Bildungsziele bestehen als solche nur, weil sie zu der Zeit und in der Gesellschaft als solche gelten. Im Gegensatz zu inhaltlich bestimmten Bildungszielen kann Humboldt mit seinem formalen Bildungsbegriff die Verschiedenheit der Menschen als Ausdruck einer allen zugrunde liegenden natürlichen Verfassung erklären, ohne von denjenigen widerlegt werden zu können, die Bildung inhaltlich definieren. Vielmehr bestätigen sich die Fähigkeiten in ihrer Ausführung, in der sie mit einem je bestimmten konkreten Zweck verbunden und damit die gesellschaftlichen Verhältnisse berücksichtigt werden. Dietrich Benner betont daher zu Recht, dass es sich weder um einen relativistischen noch um einen übergeschichtlichen Standpunkt handelt.18
Entscheidend ist daher eher die möglichst umfassende Entfaltung der in der menschlichen Natur liegenden Fähigkeiten, also die Bildung der Person als der »zweiten Natur«. Das Personsein ist das Wesen des Menschen. Diese Entfaltung der Person vollzieht sich im Erkennen und empraktisch im Umgang mit den Gegenständen in der Welt.
Trotz aller sozialen Implikationen liegt also immer eine gewisse Unbestimmtheit im Bildungsprozess, die die freie Gestaltung des eigenen Lebens ermöglicht. Denn insofern es zu den spezifisch menschlichen Fähigkeiten gehört, eigene Vorstellungen über sich zu entwerfen und deren Realisierung aktiv voranzutreiben, hängt die Ausbildung personaler Kompetenz – und damit die Möglichkeit individueller Freiheit – immer auch vom Menschen selbst ab. Daher ist es auch prinzipiell möglich, die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse zu hinterfragen und abweichende Vorstellungen zu entwickeln.
Aus den Bedingungen des individuellen Lebensvollzugs als selbständige Entwicklung der eigenen natürlichen Fähigkeiten nach relativ eigenen Vorstellungens eigene Handeln durch das Studieren. So gliche soziale Ordnung ab. Denn diese muss jede Einschränkung individueller Entfaltungsmöglichkeiten rechtfertigen. Zugleich ist das Streben nach Vervollkommnung als eine Wesensbestimmung des Menschen zwar dem Lebensvollzug immanent; doch ergibt sich ein Gebot daraus, die spezifisch menschlichen Vernunftvermögen auszubilden. Insofern liegt hier eine Gewichtung der Fähigkeiten vor, die darin begründet ist, dass die Entwicklung eigenständig erfolgen soll (und muss), wozu eben die Vernunftvermögen notwendig sind. Solange es aber um die Entwicklung von Fähigkeiten geht, wäre es zu weit gegriffen, Humboldt eine Ethik zu unterstellen. Aber umgekehrt setzt eine Ethik, wenn sie keine reine Gefühlsmoral beschreiben will, diesen Bildungsprozess, wie ihn Humboldt darlegt, voraus. Es ist daher nur konsequent, dass Humboldt diesen liberalistischen Grundgedanken der Verteidigung individueller Freiheit in den »Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen« weiter ausführt. Darin ging es ihm aber noch nicht um Überlegungen zur Institutionalisierung von Bildung durch den Staat. Dieser soll nur Freiheit im negativen Sinn, d. h. durch Nicht-Eingreifen, gewähren. Dass die negative Freiheit nicht ausreicht, um den Bildungsprozess sicherzustellen, erkannte Humboldt später. Die Frage ist, wie sich der Bildungsprozess in der spezifischen Institution Universität niederschlägt, sodass sie eine besondere Form der allgemeinen Menschenbildung darstellt.
2. Wissenschaftliche Bildung
Der Homo studens, wie ihn Humboldt sich denkt, erhält seine spezifische Bildung aus seinem universitären Studium. Dieses vermittelt nicht nur Inhalte, sondern vollzieht sich in einer bestimmten Form, die Humboldt im »Litauischen Schulplan« von der Schule abgrenzt.19 Denn im Gegensatz zur Schule, die in einem Alter besucht wird, in der die spezifisch menschlichen, d. h. geistigen, Fähigkeiten noch nicht so weit entwickelt sind, dass das Lernen den Lernenden selbst überlassen bleiben könnte, ist das Studium nicht mehr durch Vorgaben der Lehrer strukturiert. Hochschuldozenten haben lediglich die Aufgabe, die selbständige Aktualisierung der Fähigkeiten des Studenten begutachtend zu begleiten und gegebenenfalls Ratschläge zur Verbesserung zu erteilen und zu prüfen. Die Entfaltung der Individualität kann dabei auf vielfältige Weise im Rahmen inhaltlicher Wahlmöglichkeiten vor sich gehen. Insgesamt unterliegt die individuelle Entwicklung aber dem normativen Gesichtspunkt, ein ausreichendes Maß an – insbesondere geistigen – Fähigkeiten entwickelt zu haben und ausüben zu können. Mit »ausreichend« ist gemeint, dass der Student mit dem Abschluss seines Studiums in seinem Fachgebiet (aber auch darüber hinaus) in Anknüpfung an bestehende Kenntnisse neue gewinnen kann.
Für die Erkenntnisgewinnung hält Humboldt ein »dreifaches Streben des Geistes« für erforderlich: a) die »Ableitung aus einem ursprünglichen Prinzip«, b) »alles einem Ideal zubilden« und c) »beides in einer Idee zu verknüpfen«.20 Diese geistige Schrittfolge kann hier nicht erschöpfend erläutert werden. Das Prinzip gibt die Ordnung eines Gegenstandsbereichs an, während das Ideal Einzelnes in seiner allgemeinen Bestimmung erscheinen lässt und die Idee diese Bestimmung vermittels der Einfügung in die Ordnung (und damit die Unterscheidung von anderen Entitäten) realisiert. Wenn man Humboldts Überlegungen als Beispiel nach dieser Struktur rekonstruiert, so ist das Prinzip des Menschen sein selbstbestimmtes Streben nach Selbstvervollkommnung (etwa im Gegensatz zu Tieren, die dies nicht selbstbestimmt vollziehen), sein Ideal die Ausbildung aller seiner Fähigkeiten und die Idee liegt darin, seine eigenen Fähigkeiten selbstbestimmt bis zur Vollkommenheit auszubilden. Allerdings betrachtet Humboldt die ideale Bestimmung des Menschen als Gattungswesen nicht in Abstraktion von den realen Menschen, sondern sieht in ihrer Totalität, d. h. in der Gesamtheit ihrer wesentlichen Unterschiede, die Gattung repräsentiert. Die Individuen ergänzen sich also, anstatt unterschiedlich gute Muster für den idealen Menschen abzugeben. Diese Fokussierung auf die Vielfalt in der Wirklichkeit führte ihn wohl auch dazu, kaum eigene Prinzipien aufzustellen oder auch nur zu benennen.21
Diese spezifischen Fähigkeiten der wissenschaftlichen Bildung finden sich nicht im Bildungsprozess als gewöhnlicher Lebensvollzug. Dennoch entwickeln sich auch im wissenschaftlichen Erkennen allgemeine menschliche Fähigkeiten, die prinzipiell jeder ausbilden kann. Humboldt hat nun erkannt, dass für diese Ausbildung eine eigene Institution erforderlich ist, in der die Erkenntnisfähigkeiten durch Übung jenseits aller zufälligen Begabung entfaltet werden können – die Universität.
Im Studieren sollen also die Fähigkeiten entwickelt werden, durch die man in der Wissenschaft durch Ideen zu Fortschritten in der Erkenntnis gelangen kann. An dieser Stelle soll nun nicht nach den formalen Bedingungen des Studiums gefragt werden, sondern danach, in welcher Haltung der Bildungsprozess im Studium vollzogen wird, nicht wie gut oder schlecht das Studium organisiert ist, sondern wie sich die Tätigkeit des Studierens nach Humboldt ausdrückt. Es handelt sich um das, was denjenigen ausmacht, der die Entwicklung seiner Fähigkeiten anstrebt. Humboldt nennt zwei Merkmale einer gebildeten Haltung: Einsamkeit und Begeisterung. Beide bedürfen der Erläuterung.
a) Einsamkeit
Einsamkeit ist ein etwas unklarer Begriff, weil er zwei Bedeutungen vereint. Einerseits bezeichnet der Ausdruck eine (äußere) Verhaltensweise. Wenn man einsam ist, ist man von anderen Menschen räumlich oder sozial getrennt. Damit ist auch die negative Vorstellung verbunden, unter dieser Situation zu leiden und sie nicht gewollt zu haben. Andererseits wird die Gefühlslage selbst mit Einsamkeit bezeichnet, etwa in der Redeweise »Ich fühle mich einsam« (als Ausdruck der vermeintlichen oder wirklichen Tatsache, dass ich einsam bin). So spricht auch Zenkert von der »unvermeidbare[n] Einsamkeit des Individuums« und sieht die Erträglichkeit derselben in der »›Begeisterung‹ des sich bildenden Individuums« im geistigen Wirken.22 Dass Humboldt diese Bedeutung gemeint hat, darf wohl bezweifelt werden. Schließlich geht es nicht um das Bedauern über ein Fehlen von etwas, sondern um das erwünschte Vorhandensein von etwas, das das Studium ermöglichen soll. Deshalb scheint mir das, worauf Humboldt hinaus will, treffender mit dem Begriff Besinnung bestimmt zu sein. Dies lässt sich durch eine Interpretation seiner Begriffsverwendung von Einsamkeit zeigen.
Studieren ist zwar noch nicht mit wissenschaftlicher Tätigkeit gleichzusetzen, doch ist dieses der Maßstab für jenes. Im Lernprozess muss somit eine andere Haltung entwickelt werden als die, die sich im praktischen Umgang mit Gegenständen auf der Grundlage des Wissens (und Könnens) von ihnen realisiert. Der Erkenntnisprozess folgt nicht vorgegebenen Zwecken, sondern der Zweck des Erkennens liegt darin, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Auf dieser Grundlage kann die Gesellschaft ihre praktischen Zwecke verfolgen. Darin liegt der methodische Vorrang theoretischen Erkennens vor dem praktischen Umgang mit Gegenständen. Zudem modifiziert sich das eigene Handeln durch das Studieren. So spricht Helmut Schelsky von dem Versuch, ideengeleitetes Handeln – also ein Handeln, das sich an einem normativen Ideal orientiert – zur herrschenden Verhaltensnorm zu machen und hält daher mit Bezug auf Humboldts Überlegungen die Universität für »die entscheidende sittliche Lehranstalt der Gesellschaft«.23
Einsamkeit bezieht sich bei Humboldt aber nicht nur auf das Studium, sondern auch auf die Universität insgesamt: »Da diese Anstalten [die Universitäten; L. O.] ihren Zweck indess nur erreichen können, wenn jede, soviel als immer möglich, der reinen Idee der Wissenschaft gegenübersteht, so sind Einsamkeit und Freiheit die in ihrem Kreise vorwaltenden Principien. Da aber auch das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, und zwar nicht bloss, damit Einer ersetze, was dem Anderen mangelt, sondern damit die gelingende Thätigkeit des Einen den Anderen begeistere und Allen die allgemeine, ursprüngliche, in den Einzelnen nur einzeln oder abgeleitet hervorstrahlende Kraft sichtbar werde, so muss die innere Organisation dieser Anstalten ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten.«24 In diesem Gedankengang wird die Einsamkeit zwar nicht weiter erläutert. Es wird aber deutlich, dass sie sich auf die interne Organisation der Universität bezieht und damit die Kooperation fördern soll. Damit wird eine Abgrenzung zum außeruniversitären Bereich vorgenommen, durch die es möglich wird, gemeinsam Wissenschaft zu betreiben. Diese Tätigkeit fällt somit nicht unter den gewöhnlichen Lebensvollzug in der Gesellschaft. Sie ist grundsätzlich davon unterschieden, da sie sich nicht über die Ausrichtung auf den eigenen Lebensunterhalt definiert. Vielmehr geht es um den zweckfreien Umgang mit den Gegenständen, auf die die Erkenntnis gerichtet ist. Diese von allem (auch den anderen Wissenschaftlern) absehende Fokussierung auf die Erkenntnisobjekte scheint mir Humboldts Rede von Einsamkeit zu bezeichnen. Es ist die Haltung, die der Wissenschaftler in Bezug auf die theoretische Erkenntnis der Objekte einnimmt. Denn nur dadurch wird »die reine Idee der Wissenschaft« realisiert. (Vgl. auch: »Zu diesem SelbstActus [der Einsicht in die reine Wissenschaft; L. O.] im eigentlichsten Verstand ist nothwendig Freiheit, und hülfereich Einsamkeit« als Prinzipien der äußeren Organisation der Universität.)25
Das Studieren ist also einerseits tatsächlich eine rein individuelle – und insofern einsame – Tätigkeit, macht dadurch aber gerade den Einzelnen zu einem sozialen Wesen, weil er auf diese Weise die Fähigkeit erwirbt, durch normengeleitetes Handeln selbständig moralische Entscheidungen zu treffen. So versteht Schelsky Humboldts Grundgedanken über die Universität als die »Betonung der Einsamkeit des Individuums, das sich in besinnlicher Versenkung zur Universalität des Gedankens und zur Individualität der Person steigert [...]«.26 Zwar wird an dieser Stelle die Einsamkeit bei Schelsky zur Besinnung, an anderen Stellen versteht er sie aber als eine »Lebensform« und bezieht sich damit v. a. auf eine bestimmte institutionalisierte Ordnung.27 Diese mag die Idealform der zu entwickelnden inneren Haltung repräsentieren, doch kommt es hier gerade darauf an, dass diese Haltung mit der Veränderung oder Andersartigkeit der Struktur des Studiums nicht mit aufgehoben wird, sondern nur durch die (Überzeugung von der) richtige(n) Haltung eine Veränderung der Strukturen angestrebt werden kann. Daraus resultiert ja gerade der gegenwärtige »Kampf um Bildung«.
Die Besinnung beruht wesentlich auf der Eigenständigkeit des einzelnen Menschen. Die Fähigkeit zur wissenschaftlichen Behandlung von Gegenständen hat zur Folge, dass sie allein die Begründung für die Erkenntnis ist. Die Berufung auf andere Autoritäten ist nur so weit berechtigt, wie man ihre Erkenntnisse seiner eigenen Tätigkeit zugrunde legt. Daher sind Forschungsresultate immer vom Forschenden selbst zu verantworten, auch gegenüber weit verbreiteten Vorurteilen und widersprechenden Erkenntnissen anderer (angehender) Wissenschaftler. Erst auf dieser Grundlage kann die Kooperation mit anderen Wissenschaftlern stattfinden. Einsamkeit, verstanden als Besinnung, besagt hier also, dass erst durch eine Distanzierung von den Mitmenschen und der Befreiung von der unmittelbaren Übernahme ihrer Ansichten das Verhältnis zu ihnen in wechselseitiger Selbständigkeit konstituiert wird. Dabei kommt allerdings auch Humboldts Begriff der Begeisterung hinzu.
b) Begeisterung
In der anthropologischen Darstellung von Bildung im ersten Teil wurde die Begeisterung schon durch einen hohen Grad der Ausbildung der individuellen Fähigkeiten bestimmt, durch die eine höhere Erkenntnis als die von Einzeldingen möglich ist. In der Wissenschaft liegt die Entwicklung der Fähigkeiten im Erkenntnisprozess und ist auf unbekannte Eigenschaften eines Gegenstandes gerichtet. In diesem Wissenserwerb müssen sich die Erkenntnisvermögen immer wieder neu beweisen und ggf. weiterentwickeln. Hierbei rückt die Tätigkeit des Erkennens selbst in den Blickpunkt.
Ist der Gegenstandsbezug noch durch Besonnenheit gekennzeichnet, so ändert sich die Haltung, wenn der Erkenntnisprozess an sich in den Blick kommt. Die Begeisterung ist für Humboldt eine »Kraft«, die aus der Einsicht in die »Idee« hervorgeht, wie dies in der »Philosophie«, »Kunst« und »Wissenschaft« geschieht, und schließlich wieder auf die Sprache, in der sie sich reflexiv artikuliert, zurückwirkt.28 Damit ist eine selbstbestimmte Ausrichtung auf wissenschaftliche Gehalte und Methoden möglich, durch die nicht nur die eigene Entwicklung fortgeführt werden kann. Vielmehr werden auf diese Weise Prozesse der gesellschaftlichen Veränderung eingeleitet, sodass die wissenschaftliche Tätigkeit einen höheren Grad von Nützlichkeit erhält. Dieser geht nicht von bestimmten Zwecken aus, sondern untersucht die Grundlagen menschlicher Lebensverhältnisse auf ihre Voraussetzungen und Folgen hin. So wird eben medizinische Forschung betrieben, weil Krankheiten das Leben beeinträchtigen oder verkürzen und Gesundheit als ein erstrebenswertes Ziel, ein Ideal, angesehen wird. Damit ist aber nicht notwendig ein unmittelbarer Praxisbezug verbunden. Theoretische Physik, die fragt, was die Natur ist (und vielleicht noch wie sie unter der spezifischen Fragestellung erfasst werden kann), thematisiert diese auf eine Weise, die es den Menschen verständlich macht, worum es sich dabei überhaupt handelt. Solche theoretischen Erkenntnisse realisieren sich dann über Anwendungsfälle, in denen sie jeweils verifiziert oder falsifiziert werden. Denn auch das Wissen selbst gilt im menschlichen Selbstverständnis als erstrebenswert. Daher beinhaltet das Streben nach Erkenntnis immer auch einen Rückbezug des Menschen auf sich selbst, in dem er sich zum idealen Menschenbild in Beziehung setzt.29 Die – wenngleich minimale – Annäherung an dieses Ideal durch den einzelnen Erkenntnisakt und damit dessen partielle Realisierung drückt sich in der Begeisterung aus, die diese Arbeit am Fortschritt der menschlichen Lebensverhältnisse durch die reflexive Entwicklung der Erkenntnisvermögen antreibt. Dies meint Humboldt in dem unter Punkt a) angeführten ersten Zitat, in dem die Begeisterung als Mittel der Realisierung dieses Ideals genannt wird (dort hieß es: »damit die gelingende Thätigkeit des Einen den Anderen begeistere und Allen die allgemeine, ursprüngliche, in den Einzelnen nur einzeln oder abgeleitet hervorstrahlende Kraft sichtbar werde«).
Hier ist wieder zu berücksichtigen, dass die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten und die Realisierung idealer Vorstellungen die Individualität ausmachen, deren inhaltliche Bestimmungen aber zumindest partiell an so etwas wie einen »Zeitgeist« oder einem tradierten wissenschaftlichen Selbstverständnis zurückgebunden sind. Daher gibt es immer auch eine implizite Rechtfertigungspflicht des Wissenschaftlers gegenüber der Gesellschaft dahin gehend, ob und wie sehr seine Forschung ihrem allgemeinen menschlichen Selbstverständnis gerecht wird. Es ist daher übertrieben, wenn Schelsky sagt, dass Humboldts humanistisches Bildungsideal »in seiner Spitze bereits auf eine Institution der sich selbst bildenden Individualisten« abzielt.30 Denn selbst wenn die Handlungsabsicht in der Entwicklung der eigenen Fähigkeiten besteht, so geschieht dies doch nach allgemein für gut gehaltenen Überzeugungen von einem menschlichen Leben.
Dadurch, dass das Ideal handlungsleitend sein soll, gibt es für externe Anreize und Zwänge, bestimmte Forschungszwecke zu verfolgen, keine eigene Rechtfertigung. Damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass Wissenschaftler sich nach ihnen richten können, wenn sie mit ihrem human-wissenschaftlichen Selbstverständnis vereinbar sind.
Das Studieren ist nach Humboldt prinzipiell auch auf dieses Ideal reflexivselbstbestimmter Wissenschaft hin ausgerichtet, sodass die Einrichtung des universitären Studiums ein solches Studieren ermöglichen sollte. Humboldt fordert eine Einrichtung, die so beschaffen ist, »dass er [der Zögling; L. O.] physisch, sittlich und intellectuell der Freiheit und Selbstthätigkeit überlassen werden kann und, von Zwange entbunden […] eine Sehnsucht in sich tragen wird, sich zur Wissenschaft zu erheben […]«.31
Besinnung und Begeisterung sind Kennzeichen der wissenschaftlichen Bildung des Homo studens. Dies schließt nicht aus, dass sie (wie die wissenschaftliche Bildung selbst) auch außerhalb institutionalisierter Formen wie der Universität vorkommen. Nicht zuletzt sind sie auch für das künstlerische Schaffen bedeutsam. Wissenschaftliche Bildung ist nur ein Teil (wenn auch ein herausragender) menschlicher Bildung, die dem Lebensvollzug immanent ist. So kann es Begeisterung und ein gewisses Maß an Besinnung auch jenseits der Wissenschaft geben, insbesondere dort, wo das Ideal unmittelbar praktisch in Form humanitärer Hilfe realisiert wird. Andererseits ist das Fehlen dieser Einstellungen und das Verfallen in Defätismus im Bereich der Wissenschaft aber gerade ein Indiz dafür, dass man selbst dessen verlustig geworden ist, was man glaubte, anstreben zu sollen.
- 1Wilhelm von Humboldt, »Theorie der Bildung des Menschen«, in Andreas Flitner und Klaus Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band I Schriften zur Anthropologie und Geschichte, 3., gegenüber d. 2. unveränd. Aufl., Darmstadt 1980, S. 235.
- 2Vgl. ebd., S. 237.
- 3Ebd.
- 4Ebd., S. 236.
- 5Ebd.
- 6Ebd.
- 7Wilhelm von Humboldt, »Ueber Göthes Herrmann und Dorothea«, in Andreas Flitner und Klaus Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band II Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. Die Vasken, 4. Aufl., Darmstadt 1986, S. 128.
- 8Georg Zenkert, »Fragmentarische Individualität. Wilhelm von Humboldts Idee sprachlicher Bildung«, in Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (2004) 5, S. 691–707, S. 701.
- 9Wilhelm von Humboldt, »Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts«, in Andreas Flitner und Klaus Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band III Schriften zur Sprachphilosophie, 6. Aufl., Darmstadt 1988, S. 568.
- 10Ebd., S. 418.
- 11Ebd.
- 12Ebd.
- 13von Humboldt, »Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues […]« (Fn. 9), S. 426.
- 14Vgl. Wilhelm von Humboldt, »Über Denken und Sprechen«, in Flitner und Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke. Band III (Fn. 9), S. 97.
- 15Wilhelm von Humboldt, »Latium und Hellas oder Betrachtungen über das classische Alterthum«, in Flitner und Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke. Band II (Fn. 7), S. 58 f.
- 16Wilhelm von Humboldt, »Ueber die mit dem Koenigsbergischen Schulwesen vorzunehmenden Reformen«, in Andreas Flitner und Klaus Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band IV Schriften zur Politik und zum Bildungswesen, 3., gegenüber d. 2. unveränd. Aufl., Darmstadt 1982, S. 172.
- 17Vgl. Clemens Menze, Bildung und Bildungswesen. Aufsätze zu ihrer Theorie und Geschichte, Hildesheim 1980, S. 4 f.
- 18Vgl. Dietrich Benner, Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie: eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform, Weinheim 1990, S. 85.
- 19Wilhelm von Humboldt, »Unmassgebliche Gedanken über den Plan zur Errichtung des Litthauischen Stadtschulwesens«, in Flitner und Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke. Band IV (Fn. 16), S. 191.
- 20Wilhelm von Humboldt, »Über die innere und äußere Organisation einer in Berlin zu errichtenden Lehranstalt«, in Flitner und Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke. Band IV (Fn. 16), S. 258.
- 21Vgl. Wilhelm von Humboldt, »Plan einer vergleichenden Anthropologie«, in Flitner und Giel (Hg.), Wilhelm von Humboldt. Werke. Band I (Fn. 1).
- 22Zenkert, »Fragmentarische Individualität« (Fn. 8), S. 691–707, S. 701.
- 23Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, Düsseldorf 1971, S. 65.
- 24von Humboldt, »Über die innere und äußere Organisation einer in Berlin zu errichtenden Lehranstalt« (Fn. 20), S. 255 f.
- 25von Humboldt, »Unmassgebliche Gedanken über den Plan zur Errichtung des Litthauischen Stadtschulwesens« (Fn. 19), S. 191.
- 26Schelsky, Einsamkeit und Freiheit (Fn. 23), S. 77.
- 27Vgl. ebd., S. 72 ff.
- 28von Humboldt, »Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues […]« (Fn. 9), S. 287 f.
- 29Vgl. von Humboldt, »Ueber Göthes Herrmann und Dorothea« (Fn. 7), S. 128.
- 30Schelsky, Einsamkeit und Freiheit (Fn. 23), S. 55.
- 31von Humboldt, »Über die innere und äußere Organisation einer in Berlin zu errichtenden Lehranstalt« (Fn. 20), S. 261.