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Serendipität1

Geld und Erziehung, Hochschulreformen, Defizite in der Staatskasse und in der musikalischen Grundbildung, Musik und Kunst im öffentlichen Raum – sei es als Störfaktor, als »Taktgeber« oder als säkularisierte Form religiöser Erfahrung –, Reifungsprozesse der musikalischen Wahrnehmung und Reifungsprozesse durch musikalische Wahrnehmung – selbst, wenn man diese gewichtigen Themen nur oberflächlich betrachtet, zeigt sich sehr schnell, wie eng geknüpft die Verbindungen zwischen dem Künstlerischen und Pädagogischen einerseits und dem Gesellschaftlichen und Politischen anderseits sind. Diskurse zu diesen Themen werden oft geführt, meist jedoch müssen und können sie nur eine globale Sicht abbilden und bleiben daher oft bei allgemeinen Feststellungen und wohlklingender Rhetorik sowie bei allerlei gut gemeinten, jedoch schwer realisierbaren Verbesserungsvorschlägen einerseits und bei allerlei Polemik andererseits stecken. Im Folgenden ist daher bewusst die Binnenperspektive gewählt: Aus Sicht der ältesten deutschen Hochschule für Musik, aber auch aus meinem persönlichen Blickwinkel, dem eines Berufsmusikers und Musiklehrers mit 45 Jahren Erfahrung als Rezipient, Nutznießer und Weitervermittler in der musikalischen Bildung, wird es um die Zusammenhänge von Hochschulreformen, musikalischer Grund(aus)bildung und die damit verbunden und oftmals auch verhinderten musikalischen und außermusikalischen Reifungsprozesse gehen; aber auch um zufällige Entdeckungen bei der Verwandlung von Wissen in Erkenntnis und letztlich um die Unwägbarkeit der kulturellen Erziehung.

1. »Bologna« etc.: Dauerreformen aus Sicht der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig

Im Oktober 2006 standen der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig (HMT) eine ganze Reihe unausweichlicher Entscheidungen und Veränderungen bevor. Am meisten Aufregung und Kummer bereitete die damals bereits längst fällige Entscheidung, ob und wie Bachelorund Masterstudiengänge die bewährten Diplomstudiengänge ersetzen sollten. Viele Kollegen blickten außerdem mit berechtigter Sorge auf die unvermeidbare Sisyphusarbeit der Modularisierung aller Studienangebote. An zweiter Stelle im Kummerkasten nach den Bologna-Reformen standen die bereits damals zu erkennenden Umrisse eines neuen Sächsischen Hochschulgesetzes und die Vorahnung, welche hohen Anstrengungen dessen Einführung und Umsetzung abverlangen würde.

Die HMT war schon immer eine recht kleine Einrichtung. Seit der Friedlichen Revolution wurde sie jedoch durch teilweise radikale Einschnitte in den Stellenplan immer näher an die Grenze einer nicht mehr haltbaren Ausbeutung ihrer Beschäftigten gebracht. Um George Orwell zu paraphrasieren: ›alle Professoren sind gleich, aber manche sind gleicher‹. Nicht nur die dünne Personaldecke, sondern insbesondere die kunsthochschulspezifischen Besonderheiten des Dienstrechtes bedeuten, dass eine gewissenhafte Umsetzung der Flut europäischer, deutscher und sächsischer Reformen und Reförmchen an der HMT besonders schwerfällt. Der klassische wissenschaftliche Lehrstuhl mit Lehrverpflichtung in Höhe von acht Stunden à 45 Minuten, Sekretärin, Institutsmitarbeitenden im Mittelbau und zugewiesenen Mitteln für studentische Hilfskräfte ist den Universitäten vorbehalten. Die überwiegende Mehrheit der Professorinnen und Professoren an der HMT hat eine Lehrverpflichtung zwischen 18 und 22 Stunden à 60 Minuten zu absolvieren, bevor sie sich der ebenfalls vom Gesetzgeber geforderten künstlerischen Praxis, Forschung und akademischen Selbstverwaltung widmen kann. Ein eigenes Büro, geschweige denn irgendwelche personelle Unterstützung ist generell nicht vorgesehen.

Trotz alledem: Mit Hingabe haben sich die meisten Lehrenden, aber auch Studierenden und Verwaltungsmitarbeiter für die Umsetzung der zahlreichen Reformvorhaben der vergangenen Jahre eingesetzt. Vor allem die Mitglieder der beschließenden Gremien haben sich darum verdient gemacht. Es geht aber schnell an die Substanz, wenn z. B. der Senat drei lange Sitzungen innerhalb einer Woche abhalten muss. Für die biathlonähnlichen Extremleistungen der Mitglieder der Bologna-Arbeitsgruppe finde ich keine adäquaten Worte. Die Anforderungen ihrer Kommissionstätigkeit erreichten vor allem im vergangenen Jahr immer wieder den Umfang einer Hauptbeschäftigung; dabei blieben die eigentlichen Lehr-, Studien- oder Verwaltungsaufgaben erhalten.

Die parlamentarischen Vertreter des Souveräns bestimmen, in welchem Maße Lehre, Studium, Forschung und künstlerische Praxis durch immer neue Reform- und Verwaltungsaufgaben erschwert werden. Die Hochschulen in diesem Land brauchen endlich wieder die Möglichkeit, nach den Umwälzungen der vergangenen Jahre ihren eigentlichen wissenschaftlichen und künstlerischen Aufgaben konzentriert nachzugehen. Dies wäre eine Freiheit, die den derzeit teilweise gebeutelten Wissenschafts- und Kunststandorten in Deutschland viel mehr bringen würde, als alle erdenklichen bürokratischüberfrachteten Exzellenzinitiativen. Es sind nicht nur die unattraktiven Sätze der W-Besoldung, die viele herausragende Lehrende nach besseren Perspektiven außerhalb des deutschen Hochschulsystems Ausschau halten lassen; es ist auch eine anscheinend endlose, in sich widersprüchliche Reformwut. Nicht nur die besseren Ausstattungen und Betreuungsangebote ausländischer Hochschulen führen eine bedenklich hohe Anzahl hochbegabter deutscher Studierender dazu, einen Studienplatz im Ausland anzustreben, sondern auch das Gefühl, dass im einheimischen System nicht wenige Hochschulen so sehr mit andauernden Umbaumaßnahmen beschäftigt sind, dass die Ausbildungsqualität darunter nur leiden kann.

Der HMT stehen schwierige Zeiten bevor, insbesondere in finanzieller Hinsicht. Der den Mitgliedern des Sächsischen Landtags vorliegende Kabinettsentwurf für den Doppelhaushalt 2011–2012 verspricht eine gewisse Planungssicherheit für die Hochschulen, allerdings zum Preis eines empfindlichen mittelfristigen Personalabbaus. Die für das kommende Jahrzehnt beabsichtigten Stellenstreichungen lassen wenigstens theoretisch eine vorausschauende Planung zu. Das bereits zum Jahresende einzuführende Sparmodell der sogenannten Personal-IST-Kostenerstattung ist dagegen eine radikale Schocktherapie mit drastischen Folgen. Es leuchtet mir nicht ein, wie an den kleineren sächsischen Hochschulen nach Einführung der neuen Berechnungsmethode die erst vor wenigen Jahren eingeführte leistungsorientierte Professorenbesoldung noch gesetzes- und verordnungskonform umzusetzen sein soll. Auch die Finanzierbarkeit von Lehrangeboten, die den Studierenden laut Studienordnungen verbindlich zustehen, wird gerade an den Kunsthochschulen infrage gestellt. Hier muss dringend nachgebessert werden, um unnötige, verschleißende und teure Auseinandersetzungen zwischen Studierenden, nach W besoldeten Lehrenden, Rektoraten, Rechtsaufsicht und dem Freistaat abzuwenden.

2. Musikalische Bildung

Ein zweites Problem betrifft die – in unserem Fall musikalische – Vorbildung, die neben der grundsätzlichen Begabung selbstverständlich eine Voraussetzung für die Aufnahme eines jeden Hochschulstudiums darstellt.

Bevor ein Kind überhaupt mit dem Bildungssystem in Berührung kommt, erfährt es die Grundlagen menschlicher Kommunikation in der eigenen Familie. Es ist sicherlich keine originelle Feststellung, dass ›musikalische Familien‹ regelmäßig mehrere musikalisch begabte Kinder hervorbringen. Mir scheint es sehr wahrscheinlich, dass in solchen Familien dem bewussten Heranführen an das Musizieren ein entscheidender Prozess im Kleinstkindalter vorausgeht, nämlich die beiläufige, aber wiederholte Wahrnehmung des Musizierens der älteren Familienmitglieder. Ich kenne aus meiner Lehrpraxis jedoch zahlreiche Beispiele, wo auch eine niedrigere Expositionsintensität, zum Beispiel bei Einzelkindern, durchaus zu einer starken musikalischen Affinitätsbildung führen kann; den Umstand vorausgesetzt, dass die musikalische Kommunikation als etwas genauso Selbstverständliches, genauso Natürliches wie Sprache wahrgenommen wird. Leider wird die Hausmusik, selbst in bürgerlichen Familien, nur noch selten gepflegt. Vielleicht liegt es daran, dass die musikalische Erziehung von Kindern längst ihren Stellenwert als selbstverständliches Mittel und Zeichen des sozialen Aufstiegs verloren hat. Eine untrügliche empirische Bestätigung für diesen Eindruck liefern die seit Jahrzehnten rückläufigen Verkaufszahlen für die typischen Hilfsmittel der Hausmusik – etwa das Klavier, die Blockflöte und die entsprechenden Musikalien.

Wer die Erfahrung des Musizierens weder in der eigenen Familie noch in der vorschulischen Betreuung erlebt, kommt spätestens im Alter von sechs Jahren in die Grundschule. Ist es da vielleicht schon zu spät, die ›Sprache‹ der Musik ungezwungen aufzunehmen? Sicherlich ist es nicht gerade leichter, eine Sprache erst mit sechs Jahren zu erlernen, aber Kinder können auch in diesem Alter erstaunlich schnell Defizite kompensieren, wenn sie nur entsprechende Angebote bekommen.

Durch Klassensingen oder Klassenmusizieren hatte meine Generation noch die Möglichkeit – in mehr oder weniger strukturierter Form – Grundlagen der musikalischen Kommunikation wie Rhythmus, Melodie, Harmonie sowie deren Notation kennenzulernen. Bei den meisten Menschen über 40 dürften diese Kenntnisse noch ausreichend vorhanden sein, um beispielsweise ein Weihnachtslied aus konventionaler Notenschrift mitsingen zu können. Sie werden jedoch nicht mehr selbstverständlich an die heutige Generation der Grundschüler im Freistaat Sachsen vermittelt. Dies liegt auch an einer gewissen Prioritätssetzung in der zeitgenössischen Musikerziehung. Zu selten wird m. E. das Paradigma der Spaßgesellschaft hinterfragt. Für ein Kind ist das sogenannte »ästhetische Erlebnis« beim aktiven oder passiven Musikgenuss ohne Zweifel wichtig. Ich behaupte jedoch, dass dieses ohne eine vorhergehende Alphabetisierung, ohne die Vermittlung eines rudimentären Grundwissens Gefahr läuft, nur eine oberflächliche Bespaßung darzustellen. Die Anhänger von Gospel und Hip-Hop im Klassenzimmer mögen diese Dinge anders sehen. Sicher mittragen werden sie jedoch folgende Feststellung: Es liegt auf jeden Fall eine spezifische Verantwortung der Hochschulen, deren Rechtsaufsicht und der Politik für die derzeit unhaltbaren Zustände in den Grundschulen vor. Ich erlaube mir, folgende Aspekte hervorzuheben:

1. Die lang anhaltenden Kompetenzstreitigkeiten über die Zuständigkeit für die musikalische Ausbildung zu einem Lehramt in einer sächsischen Grundschule waren eine Schande. Über lange Zeit wurden deutlich zu wenige Musiklehrer für diesen Bereich in Sachsen ausgebildet. Im Ergebnis wird in den sächsischen Grundschulen regelmäßig Musik »fachfremd« unterrichtet, von Lehrern also, die oft nicht einmal selbst ein Instrument überzeugend spielen können, geschweige denn eine entsprechende musikpädagogische Ausbildung erhalten haben.

2. Das Beharren auf einem realitätsfernen Konzept der Polyvalenz in der Lehramtsausbildung auf Bachelor-Ebene wird – nicht nur bei der Musik – den Besonderheiten der Grundschule nicht gerecht.

Die Leidtragenden sind, natürlich, die Kinder, deren musikalische Allgemeinbildung – wenn überhaupt – viel zu spät beginnt. Trotz aller Bemühungen der Musikschulen, der Jugendorchester und anderer Förderinstrumente der Kommunen und Länder sind teilweise frappierende Defizite in der musikalischen Bildung vieler deutscher Schülerinnen und Schüler unübersehbar. Das Ergebnis spüren wir dann viele Jahre später im Rahmen der Aufnahmeprüfungen für ein Studium an der HMT. Im Vergleich zu gleichaltrigen Jugendlichen aus dem europäischen wie aus dem nichteuropäischen Ausland besteht bei den deutschen Studienbewerbern viel zu oft ein unüberhörbarer Rückstand in der musikalischen Allgemeinbildung sowie in der spezifischen instrumentalen Fachkompetenz.

Es geht hier nicht nur um die Verhinderung der musikalischen Hochbegabung, so tragisch diese im Einzelfall auch sein mag. Es geht allgemeiner um das gestörte Verhältnis einer ganzen Gesellschaft zu einem ihrer kostbarsten Kulturgüter. Wenn Kinder weder in der Familie noch in der Grundschule musikalisch gebildet werden, wird ihre musikalische Erfahrung eben nur noch aus dem bestehen, was ihnen der Alltag bereithält.

Folgen Sie mir dazu bitte auf eine kleine Fantasiereise in einen bekannten öffentlichen Raum der Stadt Leipzig: Wie jeden Tag abertausende andere Reisende, steigen Sie am Hauptbahnhof aus dem Zug aus. Vielleicht haben Sie sogar Ihr Kind dabei. Bereits am Querbahnsteig werden Sie von dem Singsang einer elektronisch bearbeiteten Frauenstimme begrüßt, die über die lückenlose Beschallungsanlage einen Schlager trällert. Dieses Gedudel ist nicht laut genug, damit Sie das Lied über die übrigen Bahnhofsgeräusche hinaus identifizieren könnten. Es ist jedoch laut genug, um den monumentalen Räumen der Empfangshalle den seichten Anstrich universeller akustischer Spießigkeit des frühen 21. Jahrhunderts zu verleihen.

Selbst wenn Sie sich für eher unmusikalisch halten, können Sie sich dem Einfluss dieser Berieselung nicht entziehen. Ein typisches Bahnhofsmusiktempo von ca. 100 Beats pro Minute bringt Ihre inneren Rhythmen durcheinander. Angenommen, Ihr Ruhepuls liegt zwischen 55 und 70 Schlägen pro Minute, so wird er durch die Umgebungsgeschwindigkeit von 100 BPM unwillkürlich beschleunigt. Ihr limbisches System lässt eine andere Reaktion nicht zu. Selbst die Entscheidung, den nächsten Ausgang als Fluchtweg zu verwenden, wird von diesem Beat beeinflusst. Es bleibt Ihnen nur die Wahl, sich entweder im Tempo der Beschallung zu bewegen, oder Ihre Wahrnehmung bewusst oder unbewusst zu verdrängen, um bei Ihrem inneren Rhythmus bleiben zu können.

Das Ergebnis ist in jedem Fall ein Verdummungserlebnis, eine Art Pawlowsche Konditionierung. Sie und – was viel schlimmer ist – Ihre Kinder werden so dazu erzogen, sich der Umgebungsmusik entweder zu unterwerfen oder sie auszublenden. Damit wird genau das Gegenteil von dem erreicht, was Ziel musikalischer Bildung ist, nämlich Hinhören statt Weghören.

Diesen Effekt kann man in nahezu allen öffentlichen Räumen sowohl in Leipzig als auch andernorts wahrnehmen. Selbst im Mainzer Dom war ich kürzlich überrascht festzustellen, dass mein Besuch vom Eingang bis zum Ausgang durch Chormusik aus der Tonkonserve akustisch untersetzt wurde. Zwar irritierte es mich, diese geistigen Werke gerade an diesem Ort losgelöst von jedem liturgischen Kontext zu erleben. Wenn es jedoch nicht mehr hinnehmbar sein sollte, Publikumsverkehr im Stillen zu gestatten, sollte m. E. wenigstens – à la Mayence – eine dramaturgisch halbwegs passende Musik ausgewählt werden. Es gibt sogar wissenschaftliche Studien, die eine positive Wirkung der klassischen Musik im öffentlichen Raum nachweisen. Wird etwa Mozart in einer Bahnhofshalle gespielt, werden Aggressionen gehemmt; Übergriffe finden seltener statt. Vielleicht wäre für den Leipziger Hauptbahnhof Musik etwa von Bach, Mendelssohn, Schumann, Reger, Grieg, Reinecke oder gar Wagner eine passende Wahl?

Es wäre zu einfach, die allgegenwärtige Bedudlung des öffentlichen Rau- mes als Ergebnis einer Globalisierung oder Amerikanisierung des Geschmackes zu verurteilen. Gerade die US-amerikanische Popkultur liefert einige hervorragende Beispiele, wie Kinder an gute oder gar an große Musik herangeführt werden können. Wer Strawinsky, Tschaikowsky, Mussorgsky oder gar den guten alten Bach für wenig »kindgerecht« hält, sollte einmal mit dem Nachwuchs den Disney Trickfilm »Fantasia« aus dem Jahr 1940 anschauen. Dinosaurier und »Le Sacre de Printemps«: damit lässt sich fast jedes Kind begeistern. 1957 setzte der Bugs-Bunny-Cartoon »What’s Opera Doc« einen weiteren Maßstab, als Bugs sich in der Paraderolle eines Wagnerischen Kaninchenhelden in knapp sieben Minuten die »Greatest Hits« aus dem Fliegenden Holländer, Rienzi, Siegfried und Tannhäuser mit größtmöglicher pädagogischer Einfühlsamkeit und Geschick ins Kinderbewusstsein schleuste. In jüngeren Jahren zeigten die Fernsehreihen »Die Muppet Show« und »Sesamstraße«, wie wunderbar sich Erziehung mit anspruchsvoller musikalischer Unterhaltung verbinden lässt.

Kinder sollten so viel gute Musik wie möglich, so früh wie möglich um sich herum hören. Wenn eine aktive Musikpflege in der Familie nicht umsetzbar ist und wenn die musikalische Erziehung in der Grundschule vernachlässigt wird, sollte ihnen wenigstens der passive Konsum nichttrivialer Musik ermöglicht werden.

3. Serendipität

Nichttriviale Musik stellt immer einen Gegenpol zum Ephemeren dar. Ihr zuzuhören, über sie zu meditieren, geschweige denn, sie selbst zu spielen, gewährt keinen Rausch der schnellen Befriedigung, sondern vielmehr die Möglichkeit, tiefe Einsichten in die Essenz einer jeweils faszinierenden musikalischen Gattung zu gewinnen. Nichttriviale musikalische Werke können dabei immer wieder bei der Neujustierung eines inneren Kompasses helfen. Sie bereiten Freude und spenden Trost, als wären sie Perlen auf einer Art »säkularem Rosenkranz«. Gedichte, Gemälde oder natürlich auch explizit religiöse Texte können eine ähnliche Bedeutung haben. Auch wenn die Vorstellung mir persönlich fremd ist, weiß ich aus Erzählungen von der tiefen ästhetischen Befriedigung, die in mathematischen Formeln oder in edlen Spielen gefunden werden kann. Jedenfalls stelle ich mir die Gedankenleistung des in Einzelhaft verzweifelnden Dr. B. in Stefan Zweigs »Schachnovelle« nicht nur als intellektuelle, sondern auch durchaus als ästhetisch-emotionale Angelegenheit vor.

Für einen Musiklehrer ist es eine interessante Frage, wie das »Auffädeln« gerade von musikalischen Perlen befördert werden kann. Ein Teil der Antwort besteht natürlich in der Fortsetzung jener musikalischen Erziehung, die im besten Fall bereits in jungen Jahren in der Familie begonnen wurde. Dieses früh aufgebaute »Handwerk« hilft dabei, bislang unbekannte Musik schnell begreifbar, erschließbar und erklärbar zu machen.

Zwischen einem mit gutem Handwerk und Fleiß erreichbaren Erkenntnisstand und einem tiefempfundenen emotionalen Begreifen liegt aber eine Art Membran. Das Erlebnis, diese Membran zu überwinden, ist nicht mit dem Rausch der Begeisterung zu verwechseln, die jeder musikempfängliche Mensch aus dem Konzertsaal kennt, etwa wenn das Blech in einer Brucknersinfonie einsetzt. Ich kann es am ehesten mit dem Begriff »Serendipität« beschreiben, dessen Münzung dem Engländer Horace Walpole im Jahr 1754 zugeschrieben wird. Walpole berichtet einem Freund in einem Brief über seine Lektüre des Märchens »Die Drei Prinzen von Serendip«.2 Der König von Serendip hat seine drei Söhne hervorragend bilden lassen, stellt jedoch zu seinem Leidwesen fest, dass ihre teure Erziehung sie nicht weise gemacht hat. Im Gegenteil können sie mit ihrem Wissen nichts Gescheites anfangen, weshalb der König die Prinzen von Serendip auf eine Reise ins Ausland schickt. Erst durch das Erlebnis einer besonderen Ausnahmesituation – einer kniffligen Fragestellung zu einem blinden Kamel – gelingt es den Prinzen, ihr bislang eher abstraktes Wissen zum Erlangen einer echten und für sie unverkennbar eigenen Erkenntnis einzusetzen.

Mit dem Begriff »Serendipität« meinte Walpole die nicht plan- oder erzwingbare Befruchtung einer bereits latent vorhandenen Erkenntnis mit einer völlig unerwarteten Beobachtung. Er bedeutet, dass alle gute Lehre nur Vorbereitung für die Möglichkeit ist, dass irgendwann einmal, wie man im Deutschen sagt, »der Groschen fällt«. Der Begriff wird daher gerade auch angewandt, um unvorhersehbare Entdeckungen, wie die des Penicillins, des Viagras oder, um ein technisches Beispiel zu nennen, des Sekundenklebers zu beschreiben. Für mein Empfinden beschreibt er auch ganz wunderbar die Unwägbarkeit der kulturellen Erziehung. Der König weiß, dass er seine Söhne mit der Fähigkeit zur Erkenntnis ausstatten möchte, daher lässt er sie gut und teuer bilden. Leider trifft die erwünschte Wirkung nicht planmäßig ein. Wenn unsere Gesellschaft möchte, dass auch künftige Generationen die schönen Künste pflegen, lieben und praktizieren, kommt sie nicht um eine kräftige Investition – zeitlich und finanziell – umhin. Es besteht jedoch keine Garantie, dass diese Investition planmäßig zu einem vorhersehbaren Ergebnis führen wird.

Der Musikethnologe Klaus Wachsmann beschreibt in einem Aufsatz3 von 1982 die Unberechenbarkeit der künstlerischen Reifung anhand seiner eigenen Annährung an Beethovens Streichquartett Op. 131 cis-Moll. Er berichtet, dass sein zielstrebiges Studium erst der Befruchtung durch nicht steuerbare, vielleicht sogar zufällige Interventionen bedurfte, damit »meine Wahrnehmung oder Gestalt sich veränderten« und führt fort: »Es ist gelegentlich möglich, eine solche Veränderung präzise zu datieren, aber ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass dies immer möglich […] ist«.4

Genau dies ist der Kern unseres Problems. Wir wissen, dass die HMT seit 167 Jahren hervorragende Ergebnisse erbringt. Davon zeugen abertausende Alumni, erfolgreiche Künstlerinnen und Künstler, Pädagoginnen und Pädagogen der Geschichte und der Gegenwart. Wir können sehr wohl selbst Prinzen zur Erkenntnis bringen, auch ganz ohne den Einsatz von blinden Kamelen. Wir können gelegentlich Laien faszinierende Einblicke in diesen Prozess gewähren. Nur die Schablonen des sogenannten »professionellen Wissenschaftsmanagements« passen auf unsere Arbeit ganz und gar nicht.

Die Erschließung eines nicht nur trivialen künstlerischen Werkes stellt für fast alle Menschen einen recht komplizierten und zeitaufwändigen Prozess dar. Ich glaube – zumindest in diesem Kontext – nicht an die große Liebe auf den ersten Blick. Musikalisches Begreifen fängt in frühen Kindesjahren an, benötigt Erziehung und Förderung und kann zu einigen der tiefgründigsten ästhetischen Erlebnisse führen, die uns im Erwachsenenalter zuteil werden können. Eine Garantie dafür gibt es jedoch nicht und das macht das Ganze so notorisch schwer begreifbar, so unwägbar, so schwer in Euro und Cent zu berechnen und so unmöglich, in den aus der englischen Sprache geborgten Floskeln zu umreißen – der finsteren Newspeak des von George Orwell für die Zeit nach 1984 eindrucksvoll beschriebenen Neusprech, wie es sich gerade auch bei den oft selbsternannten und selten altruistisch tätigen Experten für eine Hochschuldauerreform niederschlägt. Das ändert aber nichts daran, dass die Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig einer der Orte in dieser Welt ist, wo dieser Prozess funktioniert. Das darf nicht kaputt gemacht werden, insbesondere nicht im Eifer des Versuches, kurzfristige Finanzierungs- oder Sparziele durchzusetzen.

  1. 1Auszüge aus der Rede zur Investitur als Rektor der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« Leipzig (HMT) am 7.10.2010.
  2. 2Brief an Horace Mann, 28. Januar 1754. In Horace Walpole, »Horace Walpole’s correspondence with Sir Horace Mann«, in W. S. Lewis, W. H. Smith und G. L. Lam (Hg.), The Yale Edition of Horace Walpole’s Correspondence, Band 17, New Haven 1954.
  3. 3Klaus Wachsmann, »The Changeability of Musical Experience«, in Ethnomusicology, 26. Jg. (1982), S. 197–215.
  4. 4Ebd., S. 202. »[…] the advent of circumstances that changed my perception or gestalt. It is sometimes possible to date such change precisely, but I do not wish to suggest that it is possible or even reasonable always to do so.«
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Heft 5 (2010)
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1867-7061

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