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Über abgefahrene Züge, das Deutsche und andere Sprachen der Wissenschaft1

Eine Diskussion über das Deutsche als Wissenschaftssprache passt aus meiner Sicht gut zu den Aufgaben einer Akademie, wie sie Jürgen Mittelstrass kürzlich definiert hat: »In der Akademie schaut sich die Wissenschaft selbst an, und in der Akademie reflektiert die Gesellschaft ihr wissenschaftliches Wesen. Die Wissenschaft erkennt sich selbst und die Gesellschaft ihre Zukunft, die ohne Wissenschaft, die nach ihren eigenen Regeln lebt und arbeitet, nicht zu haben ist.«2

Ein Akademie-Forum zum Deutschen als Wissenschaftssprache ist ein wichtiges Moment einer derartigen Selbstreflexion von Wissenschaft. Aber gerade das dürfte vielleicht schon strittig sein in einer solchen Gemeinschaft von Wissenschaftlern.

Denn, wer so etwas tun will, wer also nach dem Deutschen in der Wissenschaft fragt, wird oft schon abgebürstet, bevor es überhaupt losgeht: Der Zug sei längst abgefahren, hört man immer ungehaltener von genervten Kollegen, wenn man es wagt, diese Frage zu stellen. Der Zug, der da abgefahren ist, ist natürlich der TGV, der Shinkansen der Wissenschaften, das globale Englisch, Globalesisch. Es transportiert unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse schnell, effektiv und – mit Anschluss an die Flughäfen – weltweit. Es ist die Sprache der weltweiten Distanz, die uns mit allen Wissenschaftlern auf der Welt verbindet und – vor allem und noch wichtiger – unsere eigenen Forschungen bis nach Sydney und Poughkeepsie bringt und nicht nur bis nach Flensburg und zum Brenner oder nach Riesa. Das ist doch wunderbar so, oder? Und da kommst du noch mit deinem alten Deutschen. Sicher, das Deutsche war einmal, für eine relativ kurze Zeit, auch ein solcher Zug. Doch dies ist lange her. Nun ist es höchstens noch ein Regionalzug, langsam, mit deutlich weniger Komfort, und nicht sehr weitreichend. Da braust das globale Englisch dahin. Auf dem Bahnsteig bleiben diejenigen zurück, die das Leben bestraft, die Zuspätgekommenen. Sie schauen noch den Rückleuchten des Luxuszuges hinterher. Die Redeweise von dem abgefahrenen Zug sagt es uns überdeutlich: Die Debatte ist eigentlich überflüssig.

Dass die Sächsische Akademie der Wissenschaften trotzdem die Frage noch einmal stellt, deutet zumindest darauf hin, dass es noch eine ganze Menge Zurückgebliebener gibt, die nicht glücklich sind mit dieser Situation, vielleicht aber auch, dass an der Situationsbeschreibung etwas falsch ist. Vielleicht ist es nämlich so, dass gerade die Türen des Shinkansen – wie es bei den ICE-Trains der Deutschen Bahn heißt – »selbsttätig« schließen.3 Es könnte also eher ein Moment des Zögerns sein als ein Moment des völligen Abgefahrenseins. Gerade im Superschnellzug-Bereich gab es ja letztens einige Probleme. Vor allem aber könnte es auch sein, dass dies ein Moment ist, in dem klar wird, dass es gar nicht nur auf den TGV ankommt, dass es vielleicht auch gar nicht nur um den schnellen und weltweiten Transport geht, sondern dass Wissenschaft – wie das Reisen – eine vielfältige und komplizierte Tätigkeit ist, die nicht nur in den abgefahrenen Schnellzügen stattfindet. Vielleicht ist es aber tatsächlich nur ein Vergießen von Abschiedstränen. Aber auch die wollen vergossen sein!

Die Berliner Akademie hat sich im letzten Jahr ebenfalls in einer großen Plenar-Debatte auf die Frage der Sprache der Wissenschaften eingelassen. Und am 11. und 12. Januar 2010 haben auf Einladung von Konrad Ehlich und Hans Joachim Meyer und der Volkswagenstiftung in Tutzing Wissenschaftler mit einigen Politikern und anderen wissenschaftspolitischen Akteuren die Frage des Deutschen als Wissenschaftssprache diskutiert. Es scheint also doch alles ein bisschen komplizierter zu sein, als die genervten Kollegen meinen.

Ich will aber doch zunächst zu erklären versuchen, warum so viele Wissenschaftler genervt sind von der Frage nach der Sprache in den Wissenschaften, warum sie das eigentlich für ein Thema halten, das völlig sekundär ist für ihr Tun als Wissenschaftler. Dann versuche ich zu zeigen, dass das nicht immer so ist, und schließe mit einer Bemerkung über die Schule.

1. Sprachfeindschaft der Wissenschaft

Das europäische wissenschaftliche Denken hatte von Anfang an Schwierigkeiten mit der Sprache. Es hat zwar von Anfang an die beiden Funktionen von Sprache erkannt, also dass Sprache ein kommunikatives und kognitives Instrument zugleich ist, dass Sprache zum Denken, zum Erfassen der Welt, ebenso nötig ist wie zum Kommunizieren des Gedachten. Aber es hat auch von Anfang an gesehen, dass die Sprache bei einem ganz bestimmten Denken, nämlich dem Denken der Wahrheit, dem wirklichen, echten, unverstellten Erkennen, also beim wissenschaftlichen Erkennen der Welt, stört. Im Dialog Kratylos nennt Platon das Wort – Sprache wird lange Zeit wesentlich als Wort oder Ensemble von Wörtern gedacht – ein organon didaskalikon kai diakritikon tes ousias, ein unterrichtendes, wir würden sagen: kommunikatives, und ein das Sein unterscheidendes, also kognitives, Werkzeug. Die »Unterscheidungen des Seins« sind die begrifflichen Scheidungen, die das Denken mittels der Wörter in der Welt macht: Es scheidet den Baum vom Busch, das Grüne vom Blauen, Roten und Gelben, das Warme vom Heißen usw. Humboldt hat dies später einmal schön »Portionen des Denkens« genannt. Aber dann untersucht Platon dieses Denk-Werkzeug doch ein bisschen näher und stellt fest, dass die Wörter als kognitive Größen, als »Unterscheidungen des Seins«, als Einsichten in die Welt, nicht so recht taugen: Sind sie Abbilder oder nicht, ist die erste Frage. Und wenn sie Abbilder sind, sind sie gute Abbilder? Sokrates und Kratylos kommen am Ende des Dialogs überein, dass die Wörter für das Erkennen des Seins nicht wirklich zuverlässige Instrumente sind:

»Sokrates: Auf welche Weise man nun Erkenntnis der Dinge erlernen oder selbst finden soll, das einzusehen sind wir vielleicht nicht genug, ich und du: es genüge uns aber schon, darin übereinzukommen, daß nicht durch die Worte, sondern weit lieber durch sie selbst man sie erforschen und kennenlernen muß als durch die Worte. Kratylos: Offenbar, Sokrates.«4

Wäre es nicht besser, wenn wir ohne diese schlechten Abbilder auskämen, wenn wir uns ohne Wörter direkt dem Sein zuwenden könnten? Ja, das wäre natürlich wunderbar, gesteht Kratylos ein. Phainetai, o Sokrates. Es wäre also besser, so die Konklusion, die Erkennenden kämen ohne Sprache aus.

Platon artikuliert hier die grundlegende Sehnsucht des aufgeklärten, rationalen Denkens – wir können das ruhig einmal »Wissenschaft« nennen – nach Sprachlosigkeit. Platon ist ohne Zweifel der Ur-Wissenschaftler, der erste kritische Geist, der endlich der Rationalität folgen möchte und nicht mehr dem alten Glauben der Väter, dem Mythos, dem Hergebrachten. Nichts ist aber nun so sehr ›Hergebrachtes‹ wie die Sprache. Die Kritik an der Sprache erzeugt die Sehnsucht der Wissenschaft nach Sprachlosigkeit. Denn Platon hat hier schon die ganz richtige Intuition, dass das Denken zwar nicht ohne Sprache auskommt, dass aber dieses sprachliche Denken nicht den Standards von Wissenschaft genügt und dass es deswegen besser wäre, man könnte dies alles hinter sich lassen.

Im Kratylos wird das als Wunschvorstellung – im Irrealis: »wäre es nicht …« – vorgetragen. Es bleibt offen, ob dies möglich ist, ob man die Sprache hinter sich lassen kann oder nicht. Dennoch enthält diese Wunschvorstellung von Anfang an das richtige Moment, dass Wissenschaft die hergebrachte Sprache hinter sich lassen muss. Denn Sprache ist, wenn sie auch ein kognitives Instrument ist, doch eines, das nicht-wissenschaftlichem, nicht-rationalem Denken entstammt. Das in der Sprache enthaltene Denken ist ungenau und variabel. Wissenschaftliches Denken dagegen braucht Genauigkeit und Festigkeit.

Platon benennt das Problem, schlägt aber eigentlich keine Lösung vor. Das tut dann Aristoteles. Er entscheidet die Frage für die nächsten Jahrtausende – im Grunde bis heute. Er entscheidet sie so – das meinte ich anfangs – dass die meisten Wissenschaftler denken, dass die Sprache eigentlich kein Problem sei. Er trennt Kommunikation und Kognition und setzt die Kognition universell. Die Menschen, so sagt er, machen sich Vorstellungen von der Welt, die bei allen Menschen gleich sind. Die denkende Erfassung der Welt ist also eine universelle Angelegenheit. Und sie hat mit Sprache nichts zu tun. Wenn die Menschen nun diese Gedanken den anderen Menschen mitteilen wollen, so stehen ihnen Laute zur Verfügung. Diese sind in den Sprachen verschieden. Also: Denken ist sprachlos und universell, Sprache kommt hinterher und dient nur der Kommunikation. Natürlich gibt es verschiedene Sprachen; diese Verschiedenheit ist aber nur eine der Laute, eine materielle Verschiedenheit. Sie ist für das Denken völlig unerheblich.

Dieses Sprachmodell bleibt jahrhundertelang das bestimmende. Alle europäischen Studenten hatten De interpretatione von Aristoteles auf dem Lehrplan. Und die jahrtausendelange Einsprachigkeit der Wissenschaft oder der Gelehrsamkeit – es gab ja im Westen faktisch nur eine Sprache, Latein, wie sollte das nicht die richtige sein? – bestätigte die Annahme des Aristoteles, dass tatsächlich auch das Denken der Menschen überall dasselbe ist.

Aber: Die Erfahrungen der Europäer mit der Verschiedenheit der Sprachen seit der Renaissance erschüttern das aristotelische Modell. Die Europäer lernen, dass es nicht so ist, wie Aristoteles sagt: Sie erkennen (in einem mühsamen, schmerzhaften Prozess), dass Menschen mit verschiedenen Sprachen durchaus nicht dieselben Vorstellungen bilden, dass z. B. die Sprachen der amerikanischen Völker tatsächlich andere Vorstellungen enthalten, dass sie andere semantische Universen sind. Sie sehen dann, dass auch ihre eigenen Volkssprachen partikulare Semantiken enthalten, dass die Sprachen der Welt - wie Humboldt viel später sagen wird – verschiedene »Weltansichten« sind und nicht nur verschiedene materielle Zeichen. Das heißt, dass auch die Vorstellungen der Menschen zunächst nicht universell und sprachunabhängig sind, sondern – wie Herder sagt – an den Wörtern kleben.

Immer tiefere Erfahrungen der Europäer mit den verschiedenen Sprachen stellen immer radikaler die aristotelische Unterstellung eines bei allen Menschen gleichen sprachunabhängigen Denkens in Frage. Die Europäer machen die Erfahrung, dass die Welt zunächst nun einmal sprachlich gegeben ist. Humboldt schreibt dazu:

»Der Mensch lebt mit den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschließlich so, wie die Sprache sie ihm zuführt.«5

Gemeint ist damit zugleich: So wie die einzelne Sprache sie ihm zuführt, also englisch, deutsch, nahuatl, djirbal. Es gibt nicht die Sprache überhaupt, Sprache ist nur als diese bestimmte Sprache zu haben. Und deswegen ist auch das Denken zunächst partikular und verschieden.

Dieses an die Sprache gebundene Denken ist nun in zweierlei Hinsicht eine Herausforderung für die Wissenschaft: Es ist, erstens, ungenau und volkstümlich. Bacon sagt schon 1620, dass die Wörter die Welt gemäß dem captus vulgi, der Intelligenz des (dummen) Volkes, einteilen, d. h. eben ungenau und unwissenschaftlich. Und zweitens – das fügt Locke 1690 hinzu – sind diese volkstümlichen Vorstellungen dann auch noch von Sprache zu Sprache verschieden. Ungenauigkeit und Veränderbarkeit sind die Merkmale der Semantik der natürlichen Sprache. Seit Bacon – also seit dieser Einsicht in die aus wissenschaftlicher Sicht unbefriedigende kognitive Rolle der Sprache – kämpft dann die Wissenschaft auch wieder ausdrücklich gegen die natürliche Sprache. Das heißt, Platons Frage kehrt radikaler und tiefer in der Moderne zurück. »Wäre es nicht besser, o Sokrates, wir würden das alles ohne Sprache denken?« Und die Lösung scheint tatsächlich zu sein, die Semantik der volkstümlichen und einzelnen Sprachen, so gut es geht, hinter sich zu lassen.

Niemand hat das so deutlich gesehen wie Gottlob Frege:

»Die hervorgehobenen Mängel haben ihren Grund in einer gewissen Weichheit und Veränderlichkeit der Sprache, die andererseits Bedingung ihrer Entwicklungsfähigkeit und vielseitigen Tauglichkeit ist. Die Sprache kann in dieser Hinsicht mit der Hand verglichen werden, die uns trotz ihrer Fähigkeit, sich den verschiedensten Aufgaben anzupassen, nicht genügt. Wir schaffen uns künstliche Hände, Werkzeuge für besondere Zwecke, die so genau arbeiten, wie die Hand es nicht vermöchte. Und wodurch wird diese Genauigkeit möglich? Durch eben die Starrheit, die Unveränderlichkeit der Teile, deren Mangel die Hand so vielseitig geschickt macht. So genügt die Wortsprache nicht. Wir bedürfen eines Ganzen von Zeichen, aus dem jede Vieldeutigkeit verbannt ist, dessen strenger logischer Form der Inhalt nicht entschlüpfen kann.«6

Weil die Sprache ungenau und variabel ist, ist sie ungeeignet für die Wissenschaft und muss die Wissenschaft ein genaues und unveränderbares Zeichensystem entwickeln. Die Parallele zur Hand ist besonders erhellend: Natürlich ist die Hand ein wunderbares Instrument, aber die Technik muss die Hand hinter sich lassen. Genauso muss die Wissenschaft die Sprache hinter sich lassen. Sprache muss in der Wissenschaft zum Zeichen werden. Freges berühmtes Beispiel ist ja das folgende: Das Deutsche fasst einen bestimmten Gegenstand der Welt einmal als »Morgenstern«, einmal als »Abendstern«. Nicht nur diese Variation – mal so, mal so – ist unwissenschaftlich, sondern auch die mit dem Wort verbundene Vorstellung, die einzelsprachliche Semantik: »Stern des Abends«. Diese darf in der Wissenschaft keine Rolle spielen, und das materielle Wort muss als Zeichen eindeutig auf die Sache selbst, den Himmelskörper Venus verweisen.

Wissenschaft lässt also die semantische Verschiedenheit und Veränderlichkeit der Sprache hinter sich, so dass sie letztlich doch wieder beim aristotelischen Modell ankommt. Dieses ist also gar nicht das Modell für Sprache gewesen, sondern für wissenschaftliches Sprechen – nach der Überwindung der (partikularen) Sprache. Es ist das Modell für das Zeichen und die wissenschaftliche Bezeichnung, nicht für die Sprache.

Aus der Fixierung der Sprache zu Zeichen in der Wissenschaft ergibt sich tatsächlich eine völlige Gleichgültigkeit bestimmter Wörter oder bestimmter Sprachen. Sprache ist hier im Wesentlichen nur ein – in ihrem Sosein gleichgültiges – Mittel zur Bezeichnung und Kommunikation des außersprachlich Erforschten. Sprache in der Wissenschaft ist daher tatsächlich lingua franca im ursprünglichen Sinne dieses Ausdrucks, nämlich ein rein kommunikatives Mittel zur Bezeichnung von Sachverhalten. Humboldt hat das glasklar gesehen: Eine lingua franca ist eigentlich gar keine Sprache.7

Diese seit Jahrtausenden verbreitete Auffassung lässt natürlich Sprache als etwas völlig Unwichtiges erscheinen, etwas, das mit dem Erkenntnisprozess des Wissenschaftlers überhaupt nichts zu tun hat, das nur der Verlautbarung des Erkannten dient, das man aus rein praktisch-kommunikativen Gründen wählt. Und weil das so ist, ist es nur vernünftig, wenn das Erforschte in der Sprache kommuniziert wird, die am meisten verbreitet ist, warum also nicht im global verbreiteten Englisch. Jede weitere Überlegung dazu erregt daher den Unwillen der Wissenschaftler: Macht nicht so ein Gedöns, der Zug ist abgefahren!

Nun aber kommt das große Aber, das die Diskussion bestimmt: Die Frage, die sich nämlich im Prozess der Selbstreflexion von Wissenschaft stellt, ist, ob alle Wissenschaft so ist, wie ich das bisher angedeutet habe, ob alle Sprache der Wissenschaft so ist, wie sie Frege – oder vor ihm alle Wissenschaftstheoretiker seit Bacon – sich wünschen: also als klare und feste Bezeichnung universeller Sachverhalte in der Welt da draußen. Die Antwort ist doppelt: Erstens gibt es Wissenschaft, die nicht so ist, und zweitens ist selbst die Wissenschaft, die Sprache als lingua franca verwendet, komplizierter hinsichtlich ihrer Sprachlichkeit als es die genervten Basta-Wissenschaftler wahrhaben wollen.

2. Verkörperung des Denkens in Sprache

Die Frage der Sprache stellt sich tatsächlich anders in der – in unserer Sprache ja ebenfalls »Wissenschaft« genannten – Erforschung der Kultur. Diese kann – daran besteht kein Zweifel – durchaus ebenfalls wie die Natur erforscht werden. Grob gesagt, kann auch die Kultur nach allgemeinen Gesetzen befragt und mit quantitativen Methoden untersucht werden. Die modernen Sozialwissenschaften tun das ja weitgehend. Nur ist dies nicht alles und sicher nicht die wichtigste Art der Erforschung von Kultur. Die Deutung eines Hölderlin- Gedichts, die Erkundungen zu Bildern auf griechischen Vasen, Überlegungen zum Vergessen und Vergeben in der Geschichte, literarhistorische Ausführungen zu Stefan George (das sind ein paar Themen, die wir im letzten Jahr in der geisteswissenschaftlichen Klasse unserer Akademie verhandelt haben), präsentieren sich als Reden, deren Erkenntnis-Ertrag sich aus der Lektüre von Texten, Bildern und anderen symbolischen Formen ergibt und die ihrerseits hochkomplexe Wortschöpfungen sind. Diese Reden entstehen aus einem Gespräch mit sprechenden Gegenständen. Sie sind Antworten besonders erfahrener Sprecher auf dieses Sprechen. Das Vorgehen ist dabei durchaus rational: Nachvollziehbare Beobachtungen am (sprachlichen) Gegenstand werden gemacht und Argumente für bestimmte Thesen werden vorgebracht. Diese Texte sind aber nicht das Bezeichnen sprachunabhängig existenter und sprachunabhängig – etwa mit Experimenten, Apparaten, Messungen – erforschter Sachverhalte. Diese Geschöpfe aus Sprache sind Antworten auf Sprache, Dialoge mit Worten und anderen Symbolen. Und dieses Sprachspiel braucht die Feinheiten der sogenannten natürlichen Sprache, um sein Erkenntnisziel zu erreichen. Sprache ist hier gerade nicht lingua franca. Die Handhabung der Sprache ist in diesem Sprachspiel – wie immer man es nennen mag, »Wissenschaft« oder anders – so wichtig, dass der Forscher die Sprache verwenden muss, die er am besten kann, als sein wichtigstes Forschungs-Instrument. Das ist heute zumeist noch die nationale Hochsprache, in unserem Fall also Deutsch. Deswegen fällt es hier schwerer, ins Globalesische überzugehen, denn dieses ist nicht das feine Instrument, das der deutende Forscher braucht. Globalesisch ist nur ein Zeichensystem und keine Sprache.

Was in diesen (wir nennen sie »geistes-wissenschaftlichen«) Texten gesagt wird, kann natürlich auch in einer anderen Sprache gesagt werden. Ich sage also nicht, dass die Hölderlin-Deutung, die historische Betrachtung von Schuld und Vergebung, der neue Blick auf George nur auf Deutsch gedacht und gesagt werden kann. Natürlich kann dies in jeder anderen Sprache geschehen. Nur: In anderer Sprache wäre dies dann doch ein ziemlich anderer sprachlicher Gegenstand. Denn die Sprache ist hier tatsächlich der Stoff selbst, aus dem die wissenschaftliche Erkenntnis stammt und aus dem das wissenschaftliche Produkt gemacht ist. Es ist, wie Michael Hagner gesagt hat, in Sprache verkörpertes Denken. Dies ist umso besser, also wissenschaftlicher, je besser der Sprecher die Sprache beherrscht:

»Man nehme Chemikern oder Physikern ihre Formel weg, und sie bekommen erhebliche Schwierigkeiten, überhaupt noch angemessen wissenschaftlich denken zu können. Dazu gibt es bei den Geisteswissenschaftlern ein Äquivalent. Man nehme ihnen die Sprache weg, und sie haben die gleichen Probleme. «8

Für diese Art der gelehrten oder wissenschaftlichen Betätigung hat die Sprache eine ganz andere Funktion und ein ganz anderes Gewicht als in den zuerst geschilderten wissenschaftlichen Betätigungen, wo sie ein im Grunde gleichgültiges Bezeichnungsinstrument ist. Sie ist hier – wie im Gedicht, wie im Roman – das Material des Denkens, und wie diese sind diese wissenschaftlichen Texte (ich möchte doch auf dem Ausdruck »wissenschaftlich« bestehen) Welten aus Sprache.

Daher ist das Deutsche – ebenso wie die anderen Sprachen, die eine entsprechende Tradition haben – in diesen Wissenschaften notwendig und ja auch durchaus noch lebendig. Die wichtigsten geisteswissenschaftlichen Werke deutscher Forscher, die an deutschen Universitäten arbeiten, werden immer noch deutsch geschrieben. Gerade eben hat zum Beispiel Horst Bredekamp seine wunderbare Theorie des Bildakts vorgelegt – auf Deutsch.

Und wir sollten entsprechendem Druck aus einer völlig von den Naturwissenschaften dominierten wissenschaftlichen Welt nicht nachgeben, diese Texte auf Englisch zu verfassen. Zumeist können wir das weniger gut als unsere Kultursprache. Die entsprechenden Texte, also die wissenschaftlichen Produkte, wären dann einfach schlechter, weil wir nicht die besten Instrumente benutzen. Naturwissenschaftler bestehen ja auch auf den besten Apparaten, warum sollten wir darauf verzichten und schlechtere Instrumente verwenden?

Der Druck nimmt allerdings zu. Jüngere Wissenschaftler sehen sich zunehmend genötigt, auf Englisch zu schreiben. Und oft sind sie auch ganz stolz, dass sie das so schön können. Hier ist der Übergang in die andere Sprache aber durchaus dramatischer als in dem Ersatz einer lingua franca durch eine andere wie in den Naturwissenschaften. Es ist ein voller Übergang in eine andere Sprach-Kultur, in ein anderes Denken. Das in den Geisteswissenschaften zu schreibende Englisch ist ja nicht einfach Bad Simple English, also lingua franca, sondern es ist notwendigerweise voll entfaltetes gutes Hohes Englisch. Als einzelsprachlich elaborierte Texte manifestieren die englischen Texte eine partikulare Sprachwelt wie die anderen partikularen Sprachwelten auch. Wenn wir unsere Bücher nun auf Englisch schreiben, dann dehnt sich diese partikulare Sprach-Kultur global aus, setzt sich, zunehmend imperialistisch, an die Stelle der alten Kultur, und breitet ihre partikulare »Weltansicht« auf die ganze Welt aus. Zumeist werden damit – wie wir längst schon erfahren – die bisherigen Forschungen in den anderen Sprachen missachtet und eliminiert. Die Ausweitung des Englischen in den Geisteswissenschaften, also die Ersetzung der alten Kultursprachen durch die Welt-Sprache, führt letztlich zur Eliminierung ganzer Wissenskontinente.

Gut, es ist noch nicht ganz so weit. Hier ist der Zug noch nicht abgefahren. Gerade deswegen ist hier – wie auch in den Diskussionen in der Berliner Akademie und in Tutzing – der Moment, sich dessen bewusst zu werden und entsprechend zu handeln.

Ich sehe zwei vernünftige Antworten auf die – ja auch großartige – Herausforderung der Globalisierung in den Geisteswissenschaften: erstens eine großzügige Förderung von Übersetzungen unserer Werke ins Englische. Zweitens eine gezähmte und kontrollierte Mehrsprachigkeit in unserer wissenschaftlichen Produktion. D. h. wir müssen natürlich auch auf Englisch schreiben, aber vielleicht nur, wenn wir es tatsächlich müssen, für Distanz-Kommunikation, nicht zur Generierung unseres Wissens, nicht in der kognitiven Funktion der Sprache. Widersetzen müssen wir uns dem Umerziehungsprogramm ins Globalesische, wie es unsere Universitätspräsidenten und vor allem auch bestimmte Verlage massiv ins Werk setzen.Und drittens: Wie wäre es denn, wenn der Hegemon auch einmal wieder die Sprachen der beherrschten Völker lernte? Hegemoniale Einsprachigkeit ist nun wirklich die skandalöseste geistige Haltung, die man sich vorstellen kann. Sie wissen, dass die englischen Universitäten keine Kenntnis fremder Sprachen mehr fordern? Die Masters of the Universe sind zunehmend provinzielle Monolinguale.

Und – da ich gerade am Polemisieren bin – erlauben Sie mir eine Bemerkung zu meiner persönlichen sprachlichen Globalisierung und deren Auswirkungen. Ich befinde mich ja derzeit in einem radikalen Selbstversuch. Seit zweieinhalb Jahre unterrichte ich an einer globalophonen Universität in Deutschland. Eine solche Unternehmung ist insofern nicht fehl am Platze, als damit die Jugend der Welt, die nun einmal kein Deutsch mehr lernt, in unser Land gelockt wird und sich vielleicht mit diesem anfreundet. Jedenfalls sind dort Studenten aus mehr als hundert Ländern. In meinem Seminar im letzten Semester hatten die acht Studenten tatsächlich acht verschiedene Muttersprachen. Auf Deutsch oder auf Amharisch zu unterrichten hätte keinen Zweck gehabt, also findet die Unterweisung auf Englisch statt. Da ich gern fremde Sprachen spreche – ich bin ja ein Philologe – und da ich auch lange in Amerika war, macht mir das Unterrichten auf Englisch auch Spaß, es ist eine Herausforderung. Allerdings hat der Selbstversuch einer sprachlichen Globalisierung doch deutlich folgende für die Wissenschaft nicht förderlichen Konsequenzen:

1. Obwohl ich ziemlich gut Englisch kann, fehlt mir manchmal das richtige Wort, misslingt die witzige Replik, die elegante Rhetorik im mündlichen Gebrauch des Englischen. Das gehört nämlich auch zur erfolgreichen wissenschaftlichen Tätigkeit.

2. Das ganze Englisch-Reden inspiriert mich nicht zum Schreiben auf Englisch. Und es blockiert die Nähe zu meiner eigenen Sprache, meiner alten Schreibsprache. Ich schreibe also weder auf Deutsch noch auf Englisch, ich habe noch nie so wenig produziert wie in diesen beiden Jahren.

3. Schockartig ist die Begegnung mit der englischsprachigen wissenschaftlichen Literatur, die ich zurs Prestige und den Nobelpreis – Englisch; unte So gut wie alles, was ich vorher kannte – in den Sprachen Deutsch, Französisch, Italienisch – kommt dort nicht vor. Wir sind einfach inexistent in der Anglo- Welt. Übersetzt werden wir kaum ins Englische, die Anglo-Welt ist ja keine generöse, weltoffene Übersetzungswelt.

4. Das Wenige, was ins Englische übersetzt ist – zumeist sind das nur die Klassiker, in meinem Fall z. B. Aristoteles, Dante, Vico, Humboldt etc. –, ist oft einfach katastrophal übersetzt. Die offensichtlich starke Tradition der sogenannten freien Übersetzung im Anglo-Raum lässt oft keine Begegnung mit dem Original zu, da dessen sprachliche und gedankliche Alterität in brutalen Zugriffen eliminiert wird.

5. Da die Studenten nur Englisch als Fremdsprache können, können kaum anderssprachige Texte im Unterricht zum Einsatz kommen. Die wissenschaftliche Einsprachigkeit ist total. Das ist keine gute Ausgangslage für eine wirklich globale, also auf die Welt offene Geisteswissenschaft.

3. Das Sprachspiel Wissenschaft

Unabhängig von der sicher tiefen, prinzipiellen Differenz beim Gebrauch der Sprache zwischen den beiden Wissenschaftstypen – natürlich gibt es zwei Kulturen, zwei ziemlich fundamental verschiedene Sprach-Kulturen nämlich – möchte ich nun allerdings auch für die Naturwissenschaften nachtragen, dass deren Sprachverwendung sich mitnichten in der abschließenden, irgendwie objektiven Bezeichnung sprachlos gewonnener Erkenntnisse erschöpft. Es ist ja nicht so, dass ein Forscher sprachlos das Reagenzglas ergreift, Substanz A und Substanz B zusammengießt, schüttelt, die Reaktion abwartet, diese misst, eine Zahl aufschreibt, dies zehnmal wiederholt und abschließend einen Protokollsatz formuliert, den er dann der wissenschaftlichen Welt auf Englisch verkündet. Auch naturwissenschaftliches Tun ist eingebettet in komplizierte Sprachund Zeichenwelten: So wird der Forscher nach einem weitgehend sprachlich vermittelten Studium in der Diskussion mit seinen Fachkollegen und nach ausgedehnter Lektüre auf ein Problem stoßen, das er sprachlich formuliert, bevor er eine Versuchsanordnung tatsächlich realisiert und Ergebnisse produziert. Diese verlautbart er auch nicht nur in dürren objektiven Protokoll-Sätzen in geschriebenem Englisch, sondern er muss sie auf Kongressen seinen Kollegen oder in der Universität seinen Studenten mit einem Witz oder einer eleganten Formulierung mitteilen, und er muss sie in der Diskussion mit den Kollegen und Schülern diskursiv verteidigen.

Zu alledem ist eine möglichst gute Sprachbeherrschung vonnöten. Auch für den Naturwissenschaftler ist es also von Vorteil, wenn er die Sprache verwendet, die er am besten kann. Sie ist ein wichtiges Arbeitsinstrument in der Gewinnung und der präzisen Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Kurzum, auch hier ist das Sprachspiel Wissenschaft bedeutend komplizierter, als es die wissenschaftliche Sprachkritik wahrhaben möchte. Deswegen ist es natürlich auch hier mitnichten gleichgültig, in welcher Sprache diese wissenschaftlichen Sprachverwendungen sich vollziehen. Die Partikularität der jeweiligen Sprache schlägt natürlich auch hier voll durch. Dabei sind nicht nur oder nicht so sehr die lexikalischen und grammatischen Strukturen einer Sprache im Spiel, als vielmehr auch bestimmte Text-Strukturen und Diskurstraditionen, die in den verschiedenen Sprach-Gemeinschaften sehr verschieden sein können. In einer äußerst interessanten Untersuchung hat kürzlich Winfried Thielmann eindrucksvoll gezeigt, wie verschieden deutsche und englische wissenschaftliche Texte aufgebaut sind und wie sich daher auch die jeweilige Argumentation stark unterscheidet.9 Ob man in der einen oder der anderen Sprachund Text-Tradition steht, ist auch für Naturwissenschaftler nicht unerheblich.

Dennoch ist es sicher so, dass, anders als bei den Geisteswissenschaften, die Sprache nicht der Gegenstand und auch nicht das Material ist, aus dem die wissenschaftlichen Ergebnisse gemacht sind. In den Naturwissenschaften und Techniken spielen darüber hinaus andere, nichtsprachliche Zeichensysteme sowohl in der Erkenntnisgenerierung als auch in der Kommunikation von Erkenntnis eine viel wichtigere Rolle: Formeln, Zeichnungen, Bilder sind zumindest ebenso wichtige »Sprachen« wie die natürliche Sprache.Nun, wie dem auch sei: Hier ist der Zug wirklich abgefahren. In welchen Sprachen auch immer die naturwissenschaftliche Erkenntnis generiert worden ist, sie muss anscheinend – so sagen es die Naturwissenschaftler unisono – auf jeden Fall, wenn sie die internationale Gemeinschaft der Wissenschaftler erreichen will, auf Englisch publiziert werden.

Allerdings könnte man diesen Zwang durchaus einmal hinterfragen oder gar unterlaufen, aber es traut sich niemand. Auf der Tagung in Tutzing ist völlig klar geworden, dass sich die Naturwissenschaftler widerspruchslos dem von Verlagen aus der Anglowelt auferlegten Zwang beugen: Mehr noch als der edle Wunsch nach weltweiter Verständigung scheint nämlich der impact factor – also die Maximierung persönlicher Geltung – den Gebrauch des Globalesischen zu diktieren: Die englischsprachigen Zeitschriften haben einen ungleich höheren impact factor als deutschsprachige Zeitschriften, die kaum zählen. Deutsch geschriebene Aufsätze sind für die Karriere überhaupt nicht existent, es ist, als ob man direkt für den Papierkorb produzierte. Sich gegen den impact factor zu wehren, käme einem wissenschaftlichen Selbstmord gleich. Aber sich des skandalösen Zwangscharakters dieses Systems bewusst zu werden, wäre ja schon einmal ein erster Schritt zur Befreiung.

Des Weiteren gibt es noch eine gar nicht so unerhebliche Einschränkung der exklusiven Anglifizierung der Wissenschaften: Bei gewissen angewandten Disziplinen, dort also, wo Wissenschaft direkt in eine gesellschaftliche Praxis eingeht, gibt es noch eine wissenschaftliche Publikationstätigkeit auf Deutsch. Techniker zum Beispiel publizieren durchaus noch auf Deutsch. Auch in der Medizin wird für Praktiker auf Deutsch geschrieben. Der Potsdamer Psychologe Reinhold Kliegl hat bei der Berliner Diskussion gezeigt, dass die theoretische Forschung weitgehend auf Englisch schreibt, dass aber ein großer Teil psychologischer Publikationen, eben die auf die Praxis bezogenen, durchaus weiter deutsch bleibt. Immerhin 80 % der psychologischen Publikationen sind auch nach der Internationalisierung der »Spitzenforschung« deutschsprachig. Hier wäre es geradezu irrsinnig, in den TGV einzusteigen und an den Patienten und Praktikern vorbeizurauschen.

Auch in den Naturwissenschaften gibt es also die Notwendigkeit wissenschaftlicher Mehrsprachigkeit. Anders als in den Geisteswissenschaften scheint sich hier aber die Differenzierung nach anderen Parametern zu vollziehen. Es geht nicht um Tiefe und Präzision des Denkens (Deutsch) gegenüber Distanz- Kommunikation (Englisch), sondern um oben und unten: oben – für die Forschung, das Prestige und den Nobelpreis – Englisch; unten – für die Praxis, für das Volk – Deutsch oder eine andere Sprache des Volkes.

4. Sprache der Wissenschaft in der Schule

An dieser Stelle sei eine letzte Bemerkung zu einem weiteren – letztlich vielleicht dem wichtigsten – Aspekt unseres Themas, den ich hier nur anreißen kann, angefügt. Gerade angesichts solcher funktionalen Differenzierung von Wissenschaft je nach den verschiedenen gesellschaftlichen Praktiken stellt sich die Frage nach der Verwendung der Sprache in den Bildungsanstalten. Ist es angemessen, dass schon in der Schule bestimmte Wissenschaften zunehmend nicht mehr auf Deutsch unterrichtet werden, dass die Propädeutik von Wissenschaft sich zunehmend in der globalen Sprache vollzieht? Lehrer und Eltern lieben das, sie lieben CLIL, content and language integrated learning, oft auch fälschlich bilingualer Fachunterricht genannt. Er ist nicht bilingual, sondern einsprachig, englisch. Die Lehrer lieben CLIL, weil er es ihnen erlaubt, die lernstarken Schüler von den schwächeren zu trennen. Die Eltern lieben CLIL, weil sie denken, dass damit die höhere Karriere ihres Sprösslings garantiert ist: Wer Politische Wissenschaft schon in der Schule auf Englisch gemacht hat, ist für höhere Posten in Bankwesen und Wirtschaft prädestiniert, Biologie auf Englisch garantiert den Aufstieg in die Wissenschaft und Industrie. Verkauft werden diese schulischen Angebote unter dem Etikett der »Mehrsprachigkeit«. In Wirklichkeit wird anglophone Einsprachigkeit angestrebt. Denn es geht tatsächlich um das Training in der »höheren« Sprache, so wie es früher um das Training in der höheren Sprache Hochdeutsch ging. Das anglophone private Schulwesen, das derzeit ungemein boomt, zeigt hier, was eigentlich gemeint ist: alles auf Englisch, Englisch als neue Hochsprache. Die Staatsschulen können das oft noch nicht so gut. Das Schulwesen einiger Länder allerdings bewegt sich zunehmend auf ein englischsprachiges Schulwesen zu, zumindest für die Begabten. Die Dummen sprechen und schreiben weiter deutsch, die Schlauen werden auf Englisch erzogen.

Hier findet eine Kulturrevolution statt, die nicht nur die Sprache der Wissenschaft betrifft, sondern die Gesellschaft insgesamt. Hier wird einerseits »von unten« – von der Schule und den Kindern her – der größte Angriff auf das Deutsche als Wissenschaftssprache, ja auf das Deutsche überhaupt in Gang gesetzt. Ganze Wissenschaftsbereiche – im Moment vor allem politische Wissenschaft und Biologie – sind dadurch jungen Deutschen nur noch auf Englisch verfügbar. Sie haben über diese Wissenschaften nie anders als auf Englisch gesprochen. Tendenziell wird daher niemand in der Zukunft mehr deutsch in diesen Gebieten sprechen. Hier gibt es dann auch keinen Weg mehr zurück zu einer Wissenschaftssprache Deutsch. Das Deutsche verliert ganze Landschaften seines »Ausbaus«, wie dies die Linguistik nennt, und damit zunehmend auch sein Prestige. Der »Status« des Deutschen sinkt: Hier bröckelt die Hochsprache Deutsch, hier wird Deutsch zur Vernakularsprache.

Diese Tendenz korrespondiert mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die für eine Demokratie nicht besonders bekömmlich ist: Für die englisch erzogene Elite ist Englisch die Hoch-Sprache, es ist die Sprache ihres Schreibens, ihrer Literatur, ihrer Bildung und natürlich ihrer Geschäfte (dafür vor allem hat sie ja so schön Englisch gelernt). Deutsch dagegen ist die Sprache, mit der man – wenn überhaupt – über Unwichtiges, Alltägliches spricht und mit den Dienstboten verkehrt. Hier wird das Deutsche als Hochsprache überhaupt, nicht nur als Wissenschaftssprache, liquidiert.

Oder auch: Hier schafft sich wirklich Deutschland ab, von oben, ganz bewusst und mit der elitären Arroganz einer Bourgeoisie, die über die da unten barmt, die Deutschland vermeintlich abschaffen. Diese – wirkliche oder vermeintliche – Elite steigt aktiv aus der eigenen Kultur aus. Sie ist dabei, aus Deutschland abzuhauen, ins Globale.

  1. 1Vortrag im Rahmen des Akademie-ForumsDeutsch als Wissenschaftssprache am 21.1.2011 in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig.
  2. 2Jürgen Mittelstrass, »Wissenschaftskultur. Zur Vernunft wissenschaftlicher Institutionen «, Rede vor der Leopolina am 26.2.2010, gekürzt publiziert inForschung & Lehre (6.6.2010).
  3. 3Dieser künstliche Germanismus für »automatisch« ist geradezu rührend angesichts des globalesischen Sprachfurors der Deutschen Bahn AG.
  4. 4Platon,Sämtliche Werke, auf der Grundlage der Bearb. von Walter F. Otto, hg. von Ursula Wolf, übers. von Friedrich Schleiermacher, Band 3, Kratylos [u. a.], Reinbek bei Hamburg 1994, 439b.
  5. 5Wilhelm von Humboldt,Gesammelte Schriften, hg. von Albert Leitzmann u. a., Bd. VII, Berlin 1903–36, S. 60 f.
  6. 6Gottlob Frege, »Über die wissenschaftliche Berechtigung einer Begriffsschrift« (1882), in Ders.,Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien, hg. von Günther Patzig, Göttingen 1994, S. 91–97, hier S. 94.
  7. 7Vgl. Humboldt, Gesammelte Schriften (Fn. 5), S. 175 f.
  8. 8Michael Hagner, »Verkörpertes Denken«, inNeue Zürcher Zeitung, 22./23.11.2008.
  9. 9Winfried Thielmann,Deutsche und englische Wissenschaftssprache im Vergleich. Hinführen – Verknüpfen – Benennen, Heidelberg 2009.
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Heft 6 (2011)
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