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Gegenwärtige Volksfeste und Brauchpflege in Sachsen als regionale Identifikations- und Wirtschaftsfaktoren


Volkskundliche Betrachtungsweisen


Als der Name »Volkskunde« in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufkam, wurde er in ähnlichem Sinne wie »Völkerkunde«, »Ethnographie« und »Ethnologie« vor allem in Werken zur Landesbeschreibung und Staatswissenschaft in enger Beziehung zu Geographie und Geschichte verwendet. 1981 veröffentlichte der Münchner Volkskundler Helge Gerndt den Band »Kultur als Forschungsfeld«, der, mehrfach aufgelegt und erweitert, von vielen Interessierten benutzt worden ist, weil er, über eine Einführung in das Fach Volkskunde hinausgehend, ein »kleines Panorama von Zugängen sichtbar machen wollte« und wissenschaftliche Fragestellungen exemplarisch aufzeigte.1 Volkskunde wird überwiegend als eine empirisch arbeitende, sowohl historisch als auch soziologisch orientierte Kulturwissenschaft aufgefasst, die sich meist auf europäisches Kulturgut bezieht. Als »Erfahrungswissenschaft« geht sie unmittelbar von Beobachtung, Befragung und Objektüberlieferung (auch Schriftmaterial) aus und ist in ihrer Arbeitsweise von älteren Fachtraditionen hinsichtlich qualitativer, hermeneutischer Verfahren vorgeprägt. Mit der Untersuchung traditions­bedingter Zeugnisse im Alltagsleben trägt die Volkskunde zum Verständnis kultureller Lebensvorgänge bei. 


Eine volkskundliche Untersuchung ist in der Regel »mehrdimensional« angelegt und wendet in einer geordneten Folge verschiedene Betrachtungs­perspektiven an: 


1. Das Vergleichen im Raum führt zur Konstatierung von Verbreitungsgebieten und Verbreitungsgrenzen – dahinter steht die Frage nach kulturlandschaftlichen oder kulturräumlichen Zusammenhängen bzw. nach Kulturgrenzen (Kulturraumforschung). Es seien an dieser Stelle beispielsweise die Volkskundeatlanten und ihre Informationen über die räumliche Verbreitung kultureller Erscheinungen genannt.


2. Das Vergleichen in der Zeit führt zur Konstatierung von kontinuier­lichen oder sprunghaften Abläufen und zeitlichen Schichtungen – dahinter steht die Frage nach kulturellem Wandel, nach Tradierungsprozessen und Kontinuitäten (Kulturgeschichtsforschung). 


3. Das Vergleichen im sozialen Feld führt zur Konstatierung von Anpassungserscheinungen (Enkulturation, Akkulturation), Assimilationsbarrieren und sozialen Schichtungen. Gruppen- oder schichtenspezifischen Normen und Kulturmuster werden untersucht (Gruppenkultur-Forschung).


4. Das Vergleichen im psychischen Feld führt zur Konstatierung von »Weltbildern« und »Geistigkeiten« – dahinter steht die Frage nach individuellen oder kollektiven Motivationsfeldern und Verhaltensmustern, nach archetypischen Vorstellungen und Symbolverstehen (kulturelle Verhaltensforschung).


Im Laufe der Zeit hat sich ein spezieller »Sachkanon« herausgebildet. Eine traditionelle volkskundliche Regional- oder Ländermonographie behandelt etwa folgende Gebiete: Siedlung, Haus, Möbel, Gerät, Nahrung, Kleidung, Arbeit, Brauch, Spiel, Sport, Schauspiel, Tanz, Musik, Lied, Erzählung, Sprichwort, Lesestoff, Glaubensvorstellungen, Heilpraktik, Recht. Problematisch wird eine solche Auflösung der Alltagskultur in eine Materialiensumme dann, wenn die Sachgliederung nicht mehr als ein arbeitstechnisches Orientierungs- und Ordnungsmittel angesehen, sondern zu einem Abbild des jeweiligen Kulturgefüges erhoben wird.2 Der Sachkanon korrespondiert mit spezielleren volkskundlichen Subdisziplinen: Hausforschung, Ergologie (Gerätekunde), Brauchforschung, Rechtliche Volkskunde – volkskundliche Bibliographien oder Handbücher sind oft entsprechend gegliedert.


Ein kleiner wissenschaftsgeschichtlicher Exkurs


Die Behauptung, dass der Anfang volkskundlichen Denkens im 15. Jahrhundert liegt, lässt in Lehrveranstaltungen viele Studenten interessiert aufhorchen. So wird in dem eingangs zitierten Band »Kultur als Forschungsfeld« davon ausgegangen, dass das Auffinden der völkerkundlichen Beschreibung des Tacitus, der »Germania«, dazu beigetragen hat, dass mit gesteigerter Aufmerksamkeit und einer notwendigen Distanz die Erscheinungen des zeitgenössischen Volkslebens mit den bei Tacitus geschilderten Lebensverhältnissen verglichen worden sind. Das Bewusstwerden des Alltags im Humanismus wurde als erster Schritt in einer »Geschichte volkskundlichen Fragens« charakterisiert.3 In der Barockzeit verlagerte sich das Interesse stärker auf »curiosa«. Erst die Epoche der Aufklärung setzte die Beschreibung des Alltagslebens in größerem Umfang fort. Nicht nur Boden-, Wetter-, Wirtschafts- und Sozialverhältnisse wurden aufgezeichnet, sondern auch Erscheinungen der Alltagskultur: die Gewohnheiten im Bauen und Wohnen, bei Kleidung und Nahrung, bei der Arbeit und beim Feiern von Festen. Neben die Beschreibungen des Volkslebens durch die Aufklärer trat gegen Ende des 18. Jahrhunderts die gründliche, über die Frage der Zweckmäßigkeit hinausgehende Einzelbetrachtung, die Interpretation. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgte der Schritt zur Zusammenschau. 1858 forderte der Kulturhistoriker und Journalist Wilhelm Heinrich Riehl die »Erkenntnis des Volkslebens« aus der ganzen Fülle seiner Äußerungen, der geistigen Überlieferung und der materiellen Ausprägungen. Mit dem Vortrag »Die Volkskunde als Wissenschaft« wurde von ihm erstmals die Volkskunde als eigenständiges Fach postuliert, das aus der vergleichenden Beobachtung seine Gesetze entwickelt. Auch Jacob Grimm und Wilhelm Mannhardt (1875/77 entstand nach einer umfangreichen Befragung sein Werk »Wald- und Feldkulte«) präferierten eine vergleichende Arbeitsweise. Die Untersuchungen konnten in eine einheitliche Wissenschaft münden.


Kulturraumforschung seit den 1920er Jahren


Die kulturräumliche Volkskunde hat sich aus der Dialektgeographie entwickelt. Sowohl in den »Kulturströmungen« der Rheinlande wie in den »Kulturräumen« des mitteldeutschen Ostens fiel ihr lediglich die Aufgabe zu, von der Sprachgeschichte herausgearbeitete Räume aufzufüllen und zu untermauern. Breite Quellensammlungen fehlten zunächst.


1925 führte die Universität Bonn einen interdisziplinären Kurs durch, an dem der Sprachwissenschaftler Theodor Frings, der Landeshistoriker Hermann Aubin, der Volkskundler Josef Müller und der Kunsthistoriker Heribert Reiners beteiligt waren. Die Ergebnisse des Kurses wurden 1926 unter dem Titel »Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden« veröffentlicht. Dieses Buch stellte einen neuen methodischen Ansatz der geschichtlichen Landeskunde vor, denn kulturräumliche Phänomene, zu denen die Wissenschaftler auch Festbräuche zählten, wurden kartographisch verzeichnet und in ihrer Abhängigkeit von exogenen Determinanten – wie naturräumlichen Verhältnissen, politischer Geschichte, Wirtschaftsgeschichte, Verkehrswegen und konfessionellen Verteilungen – interpretiert. Als Theodor Frings bald darauf an der Universität Leipzig ein ähnliches Projekt durchführte, bezog er die Geographen Wolfgang Ebert, den Landeshistoriker Rudolf Kötzschke, die Wortgeographin Käthe Gleisberg und den Volkskundler Gerhard Streitberg ein und veröffentlichte 1936 die Ergebnisse unter dem Titel »Kulturräume und Kulturströmungen im mitteldeutschen Osten«.


Für den volkskundlichen Teil hatten im Rheinland eigene Erhebungen die Grundlage bilden können. Gerhard Streitberg dagegen musste auf inzwischen publiziertes Material aus der Erhebung zum Atlas der deutschen Volkskunde (ADV) von 1933 zurückgreifen, das sich allerdings nur auf das Weihnachtsfest bezog. Allen an dem Projekt Beteiligten war klar, dass sich aus den Umfrageergebnissen zu einem einzigen Fest keine volkskundliche Gliederung des sächsisch-thüringischen Raumes ableiten ließ. Streitbergs Text galt damals als Versuch, den Weg für weitere Untersuchungen zu weisen.4 Es ist hervorzuheben, dass in diesen Projekten der Universitäten Bonn und Leipzig die Herausbildung der Phänomene als Ergebnis vielschichtiger und veränderbarer Determinanten gewertet wurde. Der Historiker Karl Lamprecht gliederte seinem an der Universität Leipzig 1909 gegründeten Institut für Kultur- und Universalgeschichte eine Abteilung Volkskunde an; die Leitung übernahm Eugen Mogk.


Nach 1945 waren es vor allem die volkskundlichen Institute der Universitäten Bonn und Münster, die den kulturräumlichen Ansatz weiterführten und durch die Kombination der räumlichen Daten mit Serienquellen weiterent­wickelten. Denn an beiden Instituten lagerte und lagert das ADV-Material und ein Schwerpunkt der kulturräumlichen Arbeit war und ist die Auswertung dieser Daten in Form von Karten und Kommentaren.5

In Münster entwickelte Günter Wiegelmann theoretische Grundposi­tionen zur regionalen Gliederung der Kultur, die eine lebhafte Diskussion mit Helge Gerndt und Dieter Kramer auslösten.6 Während der Arbeit am Atlas 
der deutschen Volkskunde (1955–68) veröffentlichte Wiegelmann 1961 seinen ersten Beitrag zu Fragen der kulturräumlichen Gliederung. Weitere theoretische Konzepte folgten, in denen er unter anderem die Meinung vertrat, dass bei einer umfassenden, wirklich befriedigenden Gliederung der volkstüm­lichen Kultur mehrere Wissenschaften zusammenwirken müssen. Außer der Volkskunde seien dies Geschichtliche Landeskunde, Mundartforschung und Anthropogeographie.7

Forschungsrichtungen in der zweiten Hälfte 
des 20. Jahrhunderts


Nachdem im Nationalsozialismus eine rassenkundlich, volkserzieherisch und volkstumspflegerisch ausgerichtete Volkskunde propagiert worden war, kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zur notwendigen Neuorientierung. 1946 veröffentlichte Richard Weiß die »Volkskunde der Schweiz«.8 Diese Zusammenschau einer regional begrenzten Volkskultur wurde allgemein als vorbildlich anerkannt. Weiß unterschied zwischen objektivem und subjektivem Raum. Der anhand der äußeren Merkmale topografisch recht genau zu fassenden objektiven Raumstruktur stellte er den in der Vorstellung der Menschen vorhandenen Heimatraum gegenüber.


Seit den 60er Jahren herrschte eine Tendenz zur kritischen Überprüfung und Erweiterung des volkskundlichen Aufgabenbereichs. Auf einer Klausurtagung in Falkenstein wurde 1970 die Kulturvermittlung als zentrales Problem der Volkskunde herausgestellt. Das Ergebnis waren stärker historisch-beschreibende Untersuchungen vergangenen Alltagslebens – entweder nach der »Exakt-Historischen« Methode der sogenannten Münchner Schule oder unter den Prämissen marxistischer Geschichtsschreibung in der ehemaligen DDR. Es wurden aber auch quantitativ arbeitende Innovations- und Diffusionsstudien zur materiellen Kultur durchgeführt, ebenso wie qualitativ-interpretierende Gemeinde- und Regionalforschungen. Es wurden interethnische Probleme, speziell Akkulturation, abgehandelt, Lebensweltfragen sozialkritisch bearbeitet oder gesellschaftliche Bewusstseinsvorgänge durch eine biographisch ausgerichtete Erzählforschung untersucht. Schließlich sei noch auf vielfältige empirische und theoretische Einzelstudien zur gegenwärtigen wie zur historischen Alltagskultur der industrialisierten Gesellschaft hingewiesen.9

In den 70er Jahren wurden in den alten Bundesländern einige Volkskunde-Institute umbenannt – mit der Bezeichnung »Ethnologie«. International wurden die Fachbezeichnungen Ethnologie und Ethnographie häufig verwendet. In Skandinavien sprach man von »folklivsforskning«, Volkslebensforschung und regionaler Ethnologie, in Ost- und Südeuropa allgemein von Ethnologie oder Ethnographie, während sich die entsprechende Wissenschaft in den ­angelsächsischen Ländern vielfach unter dem Dach einer Kultur- oder Sozialanthropologie vereinigt fand. Ein Teilgebiet, die Erforschung der sprachlichen Überlieferungen, vor allem der Sagen und Märchen, wurde international als Folkloristik bezeichnet. 


1974 wurden auf einer Fachkonferenz wichtige kulturanalytische Forschungsschwerpunkte vorgestellt: Kulturprozess und Kulturökonomie, Herrschaft und Kultur, Tradition und Wandel, Kulturraum und Identität, Massenkultur und Subkultur, Kulturindustrie und Kreativität, Vermittlung und Kommunikation, Gruppe und Individuum, Norm und Verhalten, Enkulturation und Akkulturation. Das Erkenntnisinteresse der Wissenschaft Volkskunde ist heute in besonderem Maße auf kulturelle Dynamik, auf Kulturprozesse gerichtet. Volkskunde versteht sich mehr denn je als Kulturwissenschaft, deren Spezifikum nicht Kulturgeschichte oder Kultursoziologie sein soll, sondern das Kulturelle, mit dem menschliche Lebensgemeinschaften sich voneinander unterscheiden, mit dem sie ihre Prioritäten setzen und mit dem sie sich Spielräume in den Sachzwängen der Lebenswelt sichern.10 Zu den Themen moderner Kulturforschung zählen die Analyse erzählter Lebensläufe, lebensgeschichtlicher Orientierungen und subjektiver Geschichtserfahrung, die Beobachtung kultureller Probleme mit der »zweiten Wirklichkeit«, dem Medienmarkt und Medienkonsum, kultursoziologische Untersuchungen zur modernen Bilderwelt, Forschungen zu »modernen Sagen«, Horrorgeschichten und Alltagsängsten, Forschungen zur Freizeitgestaltung und zum Massentourismus, aber auch zu den Veränderungen im ländlichen Raum, verbunden mit Fragen der Dorferneuerung. 


Das Projekt »Volksfeste in Sachsen« 


1993 ging von der damaligen Arbeitsgruppe Volkskunde am Institut für Geschichte der Technischen Universität Dresden, Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte (Lehrstuhlinhaber Professor K. Blaschke) die Initiative zu einem Projekt »Volksfeste in Sachsen« aus. Ein allgemein verständlicher Projektname wurde im Hinblick auf die notwendige breite Popularisierung des Anliegens gewählt. Als Partner konnte der Landesverein Sächsischer Heimatschutz e. V. (gegründet 1908) gewonnen werden, der in seinem Fachbereich Volkskunde/Volkskunst eine große Zahl engagierter Mitglieder, Ortsgruppen und -verbände aus Sachsen vereinte und als Dachverband der Heimatvereine im Präsidium »Tag der Sachsen« einen Sitz hat. Vor allem im Hinblick auf eine Mate­rialsammlung zu Festen und Bräuchen im gesamten Bundesland Sachsen erwies sich die Partnerschaft als sinnvoll und fruchtbar. Das Projekt wurde von den Sächsischen Staatsministerien für Kultus und für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten, von der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und dem Sächsischen Städte- und Gemeindetag gefördert. Zur Bewältigung der einzelnen Arbeitsschritte – Materialsammlung, quantitative Erfassung mit standardisierten Fragebögen sowie qualitative Verfahren zur Vertiefung der Kenntnisse (teilnehmende Beobachtung, Studium von Akten, Festschriften und Tourismusprospekten) – bildete sich im Landesverein Sächsischer Heimatschutz e.V. die Arbeitsgruppe Festforschung, der Volkskundler aus ganz Sachsen angehörten. 


Projektziele 


Ausgehend von der Beobachtung, dass die Anlässe und die Gestaltung von Festen, die Träger und die Finanzierungsmöglichkeiten von den sich wandelnden gesellschaftlichen Veränderungen in den neuen Bundesländern beeinflusst und geprägt wurden, sollte dieser Prozess auf dem Gebiet der Festforschung verfolgt und dokumentiert werden. In der Phase des gesellschaftlichen Umbruchs wurden Vereine gegründet oder – nach Unterbrechung der Vereinstätigkeit in der DDR – wiederbelebt. Die These, dass durch die örtlichen Vereine seit 1990 vielerorts eine Neuinszenierung und Revitalisierung von Festen und Bräuchen stattfand, sollte auf der Grundlage einer erstmaligen landesweiten Erfassung überprüft werden und es sollte Grundlagenmaterial für weiterführende landesgeschichtliche und volkskundliche Forschungen sowie für die nun wieder mögliche Lehrtätigkeit zusammengetragen werden. Im Rahmen der volkskundlichen Lehrveranstaltungen am Lehrstuhl für Sächsische Landes­geschichte wurde im Wintersemester 1994/95 ein Proseminar »Brauchtum und Festwerk in Sachsen seit dem 16. Jahrhundert« und im Wintersemester 1996/97 ein Proseminar »Kontinuität und Wandel im sächsischen Brauchtum vom Mittelalter bis zur Gegenwart« (beides Heidrun Wozel) gehalten. Studentinnen und Studenten beschäftigten sich mit Mikrostudien zu einzelnen Festen und Bräuchen. 


Feste besitzen neben dem kulturellen, wirtschaftlichen bzw. touristischen Bezug einen bedeutenden Identifikationswert für Veranstalter und Besucher. Sie sind Indikatoren für das lokale und regionale Selbstverständnis. Durch sie wird die »Territorialität« des Menschen, die innere Gebundenheit an einen Raum, eine Region, die »Heimat«, erkennbar. Mit Wiedereinführen der Länderstrukturen im Osten Deutschlands wurde in Sachsen ein auf das eigene Bundesland bezogenes Identitätsgefühl und Heimatbewusstsein auch politisch gestärkt.

Bei der auf sächsische Regionen (Vogtland, Erzgebirge, Leipziger und Dresdner Raum, Sächsische Schweiz und Lausitz) bezogenen Auswertung konnten volkskundliche Betrachtungsweisen erprobt und Einsichten in die räumliche Verbreitung kultureller Erscheinungen gewonnen werden.

Projekte in Vergangenheit und Gegenwart als Orientierungsrahmen 


Ein Vergleich der Ergebnisse im gesamtdeutschen Rahmen wurde für das Projekt ins Auge gefasst, allerdings musste berücksichtigt werden, dass das gesellschaftliche Umfeld über Jahrzehnte ein anderes war. In den 1930er Jahren erfasste eine von der Landesstelle für Volksforschung und Volkstumspflege durchgeführte schriftliche Befragung neben anderen Bräuchen auch Volksfeste und ihre Verbreitung in Sachsen. Die Frage nach der Durchführung von Festumzügen hatte im Mittelpunkt gestanden. 1933 brachte der »Grundriss der Sächsischen Volkskunde« in seinem Anhang einen Jahresweiser für die Volksfeste in Sachsen, der auf den Umfragen für den Deutschen Volkskunde-Atlas zu den regelmäßig, an festen Terminen stattfindenden öffentlichen Festen beruhte. Von der Abteilung Volkskunde des Deutschen Seminars der Technischen Universität Dresden waren für 316 Tage des Jahres die Feste aufgelistet worden. Allerdings fehlten neben den Angaben zu Festdatum und -dauer oftmals auch die präzisen Namen der Veranstaltungen.11 Die historisch ­arbeitende Brauchforschung, die sich seit Adolf Spamer in München entwickelt hatte, wurde insbesondere von Hans Moser und Karl-Sigismund Kramer vertreten und mündete letztlich in die historische Erforschung des Alltags. In der DDR erschienen Veröffentlichungen des Zentralhauses für Volkskunst und später des Zentralhauses für Kulturarbeit in Leipzig mit Festkalendern und historisch-archivalisch orientierten Brauchbeschreibungen. 


Die in den siebziger Jahren in Westdeutschland stark zunehmenden Arbeiten zum öffentlichen Festwesen gründeten sich auf eine ständig wachsende Zahl von Orts-, Heimat- und Volksfesten, für die jeweils eine möglichst lange Tradition reklamiert wurde, sowohl im Interesse von Tourismus und Kommerz, als auch zur Steigerung lokaler Identifizierung der Bewohner selbst. Für die Festforschung erwies sich hierbei »Folklorismus« als das Schlüsselkonzept zur Analyse der Feststrukturen und Festgeschichte, aber auch zur Erhellung der Anspruchswirklichkeitsebene von Traditionsideologien. Hans Moser hat, ausgehend von historischen Brauchbeschreibungen, die Beobachtungen gemacht, dass in der Gegenwart geübte Bräuche von Veranstaltern und Chronisten teilweise als auf »uralter Tradition basierend« dargestellt werden, in Wirklichkeit aber erst kurz zuvor wiederbelebt und mit neuen Brauchelementen und -requisiten ausgestattet worden waren. Moser nannte diese Erscheinung »Folklorismus« und prägte damit einen Begriff, der die Brauchforschung nachhaltig beeinflusste.12 Vor der Beobachtung des Hessentages, der seit 1972 in Marburg begangen wird – eine Verquickung von landespolitischer Intention, volkstümlicher Fröhlichkeit und der Berufung auf die guten hessischen Traditionen in Vergangenheit und Zukunft – prägte der Volkskundler Wolfgang Brückner den Begriff des »politischen Folklorismus«.13

Als 1983 an der Abteilung Volkskunde der Universität Mainz unter der Leitung von Herbert Schwedt die Untersuchung von Bräuchen in Rheinland-Pfalz und Saarland aufgenommen wurde, hatte die Beschäftigung mit öffent­licher Festkultur hier bereits Tradition. In den siebziger Jahren war eine Studie zum integrativen Charakter der Mainzer Fastnacht durchgeführt worden. Zwischen 1981 und 1983 folgte ein Forschungsprojekt zu Abwanderungsgebieten in den Randlagen von Rheinland-Pfalz, bei dem die Auswirkungen von Migration und einer daraus entstandenen »Restraummentalität« auf die regionale und örtliche Identität und somit auch auf die Festkultur und das Feierverhalten betrachtet wurden. Im Festbrauchprojekt sollte es nicht nur um die geographische Verbreitung von Bräuchen gehen, sondern auch um die Frage nach den Existenz- und Entwicklungsbedingungen, denen Feste und Bräuche unterworfen sind, und um die Frage nach den Vorstellungen und Ideen der Menschen von ihren Festen und Bräuchen, von dem, was in ihren Augen schön, richtig und wünschenswert ist, und von dem, was es nicht ist.14

In den Jahren 1976/77 hatte das Institut für Kulturanthropologie und ­Europäische Ethnologie der Universität in Frankfurt am Main eine Erhebung »Frankfurter Feste« durchgeführt, konnte jedoch bei der Auswertung nur auf 200 ausgefüllte Fragenbogen (von insgesamt 1200) zurückgreifen. Die Erhebungen in Rheinland-Pfalz und im Saarland, in Lippe/Westfalen und in Bayern hatten mehr Erfolg. 1989 unternahm die Fachstelle Volkskunde im Lippischen Heimatbund eine Fragebogenerhebung zum öffentlichen Festwesen der Gegenwart. 


Der sächsische Fragebogen orientierte sich nicht nur an diesen Projekten, sondern auch an der Umfrage des Instituts für deutsche und vergleichende Volkskunde der Universität München aus dem Jahr 1977, die von sämtlichen Gemeinden des Bundeslandes Bayern öffentliche Feste erfasste. 1992 führte darüber hinaus die Hessische Vereinigung für Volkskunde eine wissenschaftliche Jahrestagung unter dem Thema »Geschichtsbilder – Ortsjubiläen in Hessen« durch und wandte sich den nach ihrer Meinung »massenhaft gefeierten Ortsjubiläen« zu.15

Das sächsische Festforschungsprojekt war das erste in den neuen Bundesländern. 1998 veröffentlichte dann die Volkskundliche Kommission für Thüringen e.V. gemeinsam mit der Thüringischen Vereinigung für Volkskunde e.V. die Beiträge zweier Tagungen, die in den Jahren 1996 und 1997 im Zusammenhang mit dem Projekt »Thüringer Festkultur« ausgerichtet worden waren.16 Nachdem 1999 in Gotha eine weitere Tagung zu dem Projekt stattgefunden hatte, wurden diese Ergebnisse 2001 veröffentlicht.172007 hat die Landeszentrale für politische Bildung gemeinsam mit dem Landesverein Sächsischer Heimatschutz e.V. den Band »Sachsen. Heimatgeschichte, Volkskunde, Denkmalpflege, Dorfgestaltung, Natur und Landschaft« herausgegeben. »Die Geschichte Sachsens in ihrer regionalen Vielfalt, die Natur in ihrer Differenziertheit und das kulturelle Erbe in seinen Traditionslinien werden im vorliegenden Band an ausgewählten Beispielen dargestellt.18 Als gutes Beispiel für eine exemplarische Untersuchung von »Land und Leuten« in kleinen Gebieten ist der Band »Dresdner Heide. Geschichte, Natur, Kultur« zu bezeichnen, der gleichfalls vom Landesverein herausgegeben worden ist.19

Eine Initiative aus jüngster Zeit soll noch erwähnt werden: »Mensch und Kulturlandschaft. Historische und aktuelle Strategien im Umgang mit Landschaft« war der Titel einer Tagung der Gruppe der volkskundlichen Landesstellen und der Volkskundlichen Kommission für Sachsen-Anhalt e.V. in Kooperation mit dem Landesheimatbund Sachsen-Anhalt e.V. und dem Haus der Geschichte Wittenberg (PFLUG e.V.) im April 2010 in Wittenberg. Ziel war eine zweckbestimmte Definition prägender, kulturlandschaftlicher Besonderheiten, um sie bei der Neugestaltung der Landschaft fördern und auch wirtschaftlich nutzbar machen zu können.

Ergebnisse des Projekts »Volksfeste in Sachsen« und Rahmenbedingungen heute


Seit 1990 fand in Sachsen vielerorts eine Neuinszenierung und Revitalisierung von Bräuchen statt. Die Bestandsaufnahme ergab, dass alte Traditionen (z. B. Schützenbräuche, Kirmesfeiern) im örtlichen Kulturerbe wieder verankert sind und in vielen Gemeinden eine bemerkenswerte Vielfalt festgestellt werden konnte, die sich in der Abfolge von alten und neuen Festen im Jahreslauf widerspiegelte. 


In den 695 Fragebögen, die 1994 zur Auswertung vorlagen, wurden allein 243 Dorf- und Heimatfeste registriert. Es dominierten kulturelle Veranstaltungen, sogenannte bunte Programme, Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche sowie Vorführungen von berufs- oder vereinsspezifischen Aufgaben (z. B. ­Vogel- und Scheibenschießen, Turnübungen, Tanzdarbietungen, Feuerwehrübungen). Neben bunten Programmen, in denen »jedem etwas geboten werden sollte«, gab es auch Veranstaltungen, in denen die Selbstpräsentation der jeweiligen Gemeinde eine thematische Klammer bot. So wurde etwa ein charakteristisches Bauwerk zum Mittelpunkt des Festes, eine museal präsentierte technische Konstruktion oder eine landschaftliche Besonderheit (u. a. die Quelle eines Flusses, ein markanter Berg mit Aussichtsturm). Neben zahlreichen Sport-, Park-, Garten-, Bad-, Brunnen-, Quell-, Blumen-, Mühlen-, Tierpark- oder Schulfesten verzeichnet der sächsische Festkalender beispielsweise Dampflok- und Straßenbahnfeste in Dresden, das Schauflößen in Muldenberg, das Auszugsfest der Torgauer Geharnischten, das Trabantfahrertreffen in Zwickau, die Köhlerfeste in Tharandt und Sosa, das Bingefest in Geyer, die Hammerfeste in Frohnau und Wildenthal, das Saigerhüttenfest in Olbernhau, das Kalkofenfest in Lengefeld, das Beierfelder Löffelmacherfest, das Leinölfest in Pockau, die Stadt- und Festungstage auf der Festung Königstein, den Eibauer Bier- und Traditionszug – Feste, die sich wegen des immensen organisatorischen und finanziellen Aufwandes um Besucher aus ganz Sachsen 
bemühen.


Generell haben sich sowohl die Zahl als auch die Bezeichnungen der sächsischen Feste vervielfacht. Bei der kalendarischen Zuordnung der Festdaten heben sich die »festreichen« Sommermonate ab. Alte Faschings- und Heischebräuche wurden nach 1990 für die Ortsansässigen wiederbelebt, unter ihnen das Brezelsingen in Peritz in der Großenhainer Gegend, nördlich von Dresden und das Bärenleiten oder Bärenlöten in Elsnig und Taura im Leipziger Raum. Die Öffentlichkeit war in diesen Fällen ausgeschlossen.


Das statistische Material belegte, dass nach den generellen Vereinsverboten in der DDR in den 1990er Jahren wieder vorrangig Vereine als Veranstalter und Festträger fungierten. Durch die Teilnahme an Wettkämpfen und Umzügen konnten sie ihre Vereinsideen von Erhaltung und Pflege des Brauchtums und der Tracht, der sportlichen Betätigung, der Wahrung gemeinnütziger Interessen an die Öffentlichkeit tragen. Finanzielle Gesichtspunkte haben großen Einfluss auf die Festgestaltung, denn die Vereinsgelder sind knapp. Das traf in besonderem Maße für die ersten Jahre nach der Neugründung oder Wieder­belebung der Vereine zu. Durch die Mitwirkung bei überregionalen Festen, z. B. dem »Tag der Sachsen« (seit 1992) und dem »Tag der Vogtländer« (seit 1996) bestand zuweilen die Gelegenheit, die Vereinskasse aufzubessern, Trachten nähen zu lassen und Festwagen zu gestalten. Solche Veranstaltungen befriedigen nicht nur das Bedürfnis der Vereinsmitglieder nach Selbstdarstellung und Identifikation in einem größeren Zusammenhang. Sie ermög­lichen auch die Kommunikation mit anderen Vereinen und den Vergleich mit 
ihnen. 


Die Zahl der Vereine, die für einen eng begrenzten Handlungsraum und Zweck wirksam werden wollen, hat sich in den letzten Jahren erheblich vergrößert. Zugleich ist von einem altersbedingten Wechsel der Festorganisatoren und sonstigen Verantwortungsträger mit entsprechendem Organisations­geschick und Traditionsbewusstsein zu neuen Festträgern auszugehen, die wegen der ausbleibenden Zuschüsse der Kommerzialisierung von Festen größere Beachtung schenken müssen. 


Die Wirtschafts- und Sozialstruktur ist besonders im ländlichen Bereich von großen Veränderungen geprägt. Durch das Geburtendefizit, selektive arbeitsmarktbestimmte Abwanderung, den Abbau von Einrichtungen der sozia­len Infrastruktur und den Wegfall von wohnungsnahen Arbeitsplätzen sowie durch Arbeitslose und Überlastigkeit der nichterwerbstätigen gegenüber der erwerbstätigen Bevölkerung geht das Einwohnerpotenzial zurück. Neben der Verwaltungsreform auf Kreisebene haben sich vor allem infolge der auf Gemeindeebene erforderlichen zusammenlegenden Maßnahmen neue Zuordnungsmuster ergeben. Beim verwaltungstechnischen Umbau wurde die gemeindefinanzielle Ausstattung verringert, so dass hier Ressourcen für die örtliche Festgestaltung und Brauchpflege nur noch eingeschränkt zur Verfügung stehen. Im Juni 2010 wurde beispielsweise im Finanzausschuss des Stadtrates von Radebeul darüber gestritten, ob die finanzielle Bezuschussung der öffentlichen Feste in der bisherigen Höhe belassen werden kann oder Einschränkungen beschlossen werden müssen. Andererseits musste man eingestehen, dass der Ausgleich mit Sponsorengeldern zwar angestrebt, aber derzeit schwierig sei und nicht ausreichend gesichert werden kann.20 Die Finanzkraft ortsansässiger Betriebe für solche Zusatzausgaben ist häufig begrenzt.

Wirtschaftliche Interessen spielen heute bei der Ausrichtung von Festen eine größere Rolle als zuvor. Es geht darum, die Mittel zur Veranstaltung selbst aufzubringen, Sponsoren zu finden und möglichst mit Gewinn abzuschließen, um eine Wiederholung gewährleisten zu können. Die Interessen des Fremdenverkehrs werden stärker berücksichtigt und z. B. historische Anlässe für touristische Programmangebote genutzt. Häufiger als früher finden Bauernmärkte mit Schauvorführungen von Landwirtschaftsvereinen statt. Hier geht es zugleich um eine werbewirksame Präsentation heimischer Erzeugnisse, die zunächst durch die wirtschaftliche Umgestaltung in den neuen Bundesländern als notwendig angesehen wurde, jetzt aber auch, insbesondere für Handwerksbetriebe und Werkstätten aus wirtschaftlich unterentwickelten Regionen, eine unverzichtbare Verkaufswerbung ermöglichen. In den Festumzügen werden seit 1989 zunehmend neben Bildern, Gruppen und Festwagen zur Orts- und Landesgeschichte auch ortstypisches Handwerk und Gewerbe vorgestellt. Handwerkermärkte und Handwerkerstraßen, Tage der offenen Werkstätten mit Vorführung von Arbeitstechniken und Handarbeitskursen haben zahlenmäßig zugenommen, zugleich sinkt der Anteil der Werkstätten, die noch nach alten handwerklichen Techniken arbeiten (z. B. Blaudrucker, Böttcher, Drechsler). Seit 1990 sind die Mittelaltermärkte mit dem Verkauf von Naturprodukten und nachempfundenen mittelalterlichen Lebensbedingungen – einschließlich historischer Kostümierung – im Aufwind. Agenturen reisen damit durch die Lande und »vermarkten« das Mittelalter-Erlebnis im historischen Ambiente von Burgen, Schlössern und Stadtmauern. Sie übernehmen aber auch die Durchführung anderer Feste. In welchem Umfang in den letzten Jahren Veranstaltungsagenturen die Festgestaltung für die Kommunen übernommen ­haben, muss überprüft werden. 


Von den Festen der Berufsgruppen sind die Schifferfeste (Schifferfastnacht) an der Oberelbe, in der Sächsischen Schweiz, und die Wein- und Winzerfeste im Elbtal zwischen Meißen und Pillnitz erhalten geblieben. Die Zahl der Winzer hat zugenommen, doch Elbschiffer gibt es heute kaum noch, so dass die Schifferfeste von Menschen aus vielen Berufs- und Altersgruppen gestaltet werden. Im Erzgebirge, wo der Bergbau in mehr als fünf Jahrhunderten als vorherrschender Erwerbszweig ein gemeinschaftsbildendes und standesbetontes Brauchtum der Bergleute gefördert hatte und Bergparaden im Bergmanns­habit, begleitet von Bergmannskapellen, zum beeindruckenden Höhepunkt vieler Feste geworden sind, sind auch neue Feste entstanden, deren Ursprung im hier ansässigen Heimgewerbe liegt: Schwibbogenfeste, Pyramidenfeste, Spielzeugmacherfeste. Zweifellos haben diese Feste einen werblichen Hintergrund, doch ist die lokale Identifikation der brauchübenden Gruppen nicht zu übersehen. Jung und Alt beteiligt sich am Festzug mit sichtlicher Freude am Gestalten »lebendigen Spielzeugs«. Diese an Berufstraditionen gebundenen Feste haben regionale Schwerpunkte. Oft werden sie in die touristische Konzeption von »Themen-Straßen« eingebunden (Weinstraße im Elbtal, Silberstraße im Erzgebirge, Ferienstraße »Handwerk erleben« in der Oberlausitz). Es ist zu erkennen, dass mit der Reprivatisierung im Handwerk verschiedene Arbeits- und Festbräuche wieder auflebten, die in der DDR weggefallen waren. Die Handwerksinsignien, die Innungsladen und -fahnen, haben größere Bedeutung bei Feiern und Zusammenkünften erlangt.


Die Kartierung von Schützenbräuchen durch die Studenten des Kartographischen Institutes der Technischen Universität Dresden hat eine durchgängige Verbreitung bestätigt.21 Auf einer Sachsenkarte wurde die Verbreitung von Jahresfeuern (z. B.Walpurgis- und Hexenfeuer) verdeutlicht. Eine starke Zunahme ist bei den Osterfeuern zu verzeichnen. Häufig sind die Ursprünge und die Prägungen der Bräuche in den vergangenen Jahrhunderten bei den Zuschauern nicht bekannt. Insbesondere in der Kenntnis christlicher Inhalte besteht ein Defizit – nicht nur bei den jüngeren Festbesuchern. In diesem Fall wirkt die ideologische Beeinflussung in der DDR nach und kann nur durch sachkundige Aufarbeitung und Information zur Geschichte des Brauches überwunden werden. Von einem Mitglied der Arbeitsgruppe Festforschung wurde das Frage­bogenmaterial für die sorbische Bevölkerung in Sachsen aufgearbeitet. Generell zeigte sich zur Wahrung und Erhaltung sorbischer Identität ein Festhalten an traditionellen Festen und Bräuchen, bei denen zwar Außenstehende als Zuschauer willkommen sind, die jedoch in erster Linie für und mit den sorbischen Einwohnern der Gemeinden gestaltet werden.


Die mündlichen Befragungen von Mitarbeitern der Gemeindeverwaltungen, von Vereinsmitgliedern, Inhabern von Unternehmen und Festbesuchern ließen mehrheitlich Erwartungen von der Förderung des Identitätsgefühls der Einwohner, von engagierter Brauch- und Heimatpflege, Belebung des gesellschaftlichen Lebens in der Gemeinde erkennen. Regionale Identität entsteht in und durch Öffentlichkeit, doch die soziologische Gemeindeforschung ist sich darüber einig, dass die Kommune als Lebenszusammenhang nicht mehr besteht, denn Arbeits- und Wohnort fallen häufig mittlerweile nicht mehr zusammen. Die daraus entstehende Zwangsmobilität korrespondiert mit einer mehr oder weniger freiwilligen Mobilität, die durch fehlende Infrastruktur erforderlich wird: kein großer Einkaufsmarkt, kein Schwimmbad, kein Krankenhaus, keine Fachärzte, kein Fitnessstudio … Der Wohnort ist in diesem Fall nicht identisch mit dem Lebensraum. Gleichwohl erscheint die Kommune als bedeutsame Einheit – weil sie als Vorstellungsbild und Orientierungspunkt im Wissensvorrat der Menschen fest verankert ist. Der Lebenswelt-Begriff, die »Region«, orientiert sich jedoch am tatsächlichen Handlungsraum der Menschen. Die administrativen Einteilungen des Raumes werden dabei ignoriert.22 In einer 1995 veröffentlichten Studie »Wer oder was macht Region? Über­legungen zur Möglichkeit regionaler Identität« gingen die Verfasser von ihren Beobachtungen bei einer Beratung im Landratsamt in Lauterbach (Vogelsbergkreis) aus, zu der sich die Arbeitsgruppe »Regionalidentität« im Rahmen eines aus EU-Mitteln finanzierten Projektes »Regionalmarketing« zusammengefunden hatte. Die Arbeitsgruppe setzte sich aus Vertretern der Kommunen, des Landkreises, der Sparkasse, der Industrie- und Handelskammer sowie einem Journalisten, Vertreter einer lokalen Kulturinitiative, zusammen. Das Vorhandensein einer kollektiven Identität im Vogelsbergkreis wurde von ihr a priori ausgeschlossen, die Notwendigkeit einer solchen postuliert und die »Machbarkeit« von Identität vorausgesetzt.23Die Beobachtung veranlasste die Autoren der Studie, der Genese einer kollektiven, räumlich determinierten Identität nachzuspüren. Sie kamen unter anderem zu dem Ergebnis, dass eine Region durchaus die Chance bietet, als räumlich Ganzes erfahrbar zu sein und dass es durchaus verschiedene und konkurrierende Vorstellungen über eine Region in einer Region geben kann, von unterschiedlichen Kollektiven, die sich dort konstituieren.Der Prozess der Identitätsbildung wird verstanden zum einen als ein Hineinwachsen des Einzelnen in eine durch vielerlei Institutionalisierungen objektiv gewordene Wirklichkeit, zum anderen als ein stetiger Interak­tionsprozess zwischen dem Einzelnen und seiner alltäglichen Umwelt, wodurch auch diese Alltagswelt als in einem stetigen Prozess gradueller Wandlungen zu verstehen ist. Feste und Bräuche unterliegen Wandlungen, weisen jedoch auch langfristig fortbestehende Merkmale auf, so dass sie zur Identitätsbildung beitragen können. Die Region kann einen übergreifenden Raum bilden, der von den hier lebenden Menschen als Heimat erlebt und erfahren wird.


  1. 1Vgl. Helge Gerndt, Kultur als Forschungsfeld. Über volkskundliches Denken und Arbeiten, hg. vom Institut für deutsche und vergleichende Volkskunde der Universität München (Münchner Beiträge zur Volkskunde, Band 5, 2., erweiterte Auflage), München 1986, Vorwort.

  2. 2Vgl. Helge Gerndt, Studienskript Volkskunde: eine Handreichung für Studierende, hg. vom Institut für deutsche und vergleichende Volkskunde der Universität München (Münchner Beiträge zur Volkskunde, Band 12), München 1990, S. 75–76. 

  3. 3Gerndt, Kultur als Forschungsfeld (Fn. 1), S. 20–22.

  4. 4Vgl. Christoph Kühn, »Festbrauch- und Kulturraumforschung im Rheinland und auch in Sachsen«,inLandesverein Sächsischer Heimatschutz e. V., Arbeitsgruppe Festforschung des Fachbereiches Volkskunde/Volkskunst (Hg.), Volksfeste in Sachsen, Tagungsheft zur Tagung »Kontinuität und Wandel in der Gestaltung Sächsischer Volksfeste der Gegenwart«, Dresden 1994, S. 30–33.
  5. 5Ebd., S. 30–31.

  6. 6Günter Wiegelmann, »Theoretische Konzepte der Europäischen Ethnologie. Diskussionen um Regeln und Modelle«, in Günter Wiegelmann (Hg.), Grundlagen der Europäischen Ethnologie, Band 1, 2., erweiterte Auflage, Münster 1995.

  7. 7Ebd., S. 127–128. 

  8. 8Richard Weiss, Volkskunde der Schweiz. Grundriß, Erlenbach-Zürich 1946.

  9. 9Ingeborg Weber-Kellermann und Andreas C. Bimmer, Einführung in die Volkskunde / Europäische Ethnologie. Eine Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 1985; Wolfgang ­Jacobeit, Bäuerliche Arbeit und Wirtschaft. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der deutschen Volkskunde, Berlin 1965; Gerndt, Studienskript Volkskunde (Fn. 2), S. 30.

  10. 10Vgl. Dieter Kramer, Von der Notwendigkeit der Kulturwissenschaft. Aufsätze zu Volkskunde und Kulturtheorie, Marburg 1997, S. 17 ff.

  11. 11Vgl. Herbert Bellmann, »Jahresweiser für die Volksfeste in Sachsen«,in Walter Frenzel, Fritz Karg und Adolf Spamer (Hg.), Grundriss der Sächsischen Volkskunde, Band 2, Leipzig 1933, S. 65 ff.

  12. 12Vgl. Weber-Kellermann und Bimmer, Einführung in die Volkskunde / Europäische Ethnologie (Fn. 9), S. 123–124.

  13. 13Vgl. Wolfgang Brückner, »Heimat und Demokratie. Gedanken zum politischen Folklorismus in Westdeutschland«, in Zeitschrift für Volkskunde 61 (1965), S. 205–213.

  14. 14Kühn, »Festbrauch- und Kulturraumforschung« (Fn. 4), S. 31.

  15. 15Vgl. Johanna Rolshoven und Martin Scharfe (Hg.), Geschichtsbilder. Ortsjubiläen in Hessen (Beiträge zur Kulturforschung 1), Marburg 1994, Vorwort S. 8.

  16. 16Vgl. Gudrun Braune, Peter Fauser und Helga Raschke (Hg.), Öffentlich feiern. Zur Festkultur in Thüringen (1). Tagungen Erfurt 1996 und Kammerforst 1997, hg. im Auftrag der Volkskundlichen Kommission für Thüringen e.V. und der Thüringischen Vereinigung für Volkskunde e. V. ( Thüringer Hefte für Volkskunde, Band 6), Erfurt 1998.

  17. 17Vgl. Gudrun Braune, Peter Fauser und Helga Raschke (Hg.), Feste im Landkreis Gotha und im Unstrut-Hainich-Kreis. Zur Festkultur in Thüringen (2). Tagungen Bad Langensalza 1997, Kammerforst 1997, Gotha 1999, hg. im Auftrag der Volkskundlichen Kom-mission für Thüringen e.V. und der Thüringischen Vereinigung für Volkskunde e.V. (Thüringer Hefte für Volkskunde, Band 7), Erfurt 2001.

  18. 18Sächsische Landeszentrale für politische Bildung und Landesverein Sächsischer Heimatschutz e. V. (Hg.), Sachsen. Heimatgeschichte, Volkskunde, Denkmalpflege, Dorf­gestaltung, Natur und Landschaft, Dresden 2007.

  19. 19Landesverein Sächsischer Heimatschutz e. V. (Hg.), Dresdner Heide. Geschichte, Natur, Kultur, Dresden 2008.

  20. 20Uwe Hoffmann, »Feste in der Diskussion. Kritiker rütteln an Festkultur in Radebeul und bemängeln Geldverschwendung beim Coswiger Stadtfest«, in Dresdner Neueste Nachrichten, 8.6.2010, S. 19. 

  21. 21Die Karten zu Jahresfeuern, Schützenbräuchen und Kirmes, Kirchweih, Ernte- und Erntedankfesten in Sachsen wurden im Sonderheft Volksfeste in Sachsen veröffentlicht: Landesverein Sächsischer Heimatschutz e.V., Arbeitsgruppe Festforschung des Fachbereichs Volkskunde/Volkskunst (Hg.), Volksfeste in Sachsen. Dokumentation und Festkalender, Dresden 1998.

  22. 22Reimar Brinkmann und Frank Seibel, »Wer oder was macht Region? Überlegungen zur Möglichkeit regionaler Identität«, in Heinz Schilling und Beatrice Ploch (Hg.), ­Region. Heimaten der individualisierten Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1995, S. 33–34.

  23. 23Ebd., S. 22 ff.
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Heft 7 (2011)
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