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Zur Beheimatung des Islam, der Islamischen Theologie und des Islamischen Religionsunterrichts in Deutschland


1. Einleitung


Der Islam ist in Deutschland allgegenwärtig. Es gibt muslimische Nachbarn, Muslime im Kindergarten, in der Schule oder im Betrieb. In den Medien wird laufend zum Thema berichtet, etwa zur Deutschen Islamkonferenz, zum ­Islamischen Religionsunterricht oder zur Etablierung Islamischer Theologie an deutschen Universitäten. Trotzdem ist der Islam vielen Menschen in Deutschland noch fremd; es bestehen Ängste, Vorurteile und Ressentiments. Auf der anderen Seite fühlen sich auch viele Muslime in Deutschland geistig fremd.


Der Islam ist in diesem Land weiterhin die Religion einer ökonomisch und sozial benachteiligten Minorität. Integration und religiöse Eingliederung bleiben daher weiterhin eine große und vor allem langfristige Aufgabe. Bis es soweit sein wird, dass sich die Mehrheit der Muslime als »gleichwertige« Einheimische fühlen kann, wird es noch mindestens ein bis zwei Generationen brauchen. In den letzten Jahren veröffentlichte Studien bestätigen, dass es dieser Zeit bedarf, um kulturell und historisch verwurzelte Vorurteile abzubauen.1

Doch wie weit ist der Islam in Deutschland mittlerweile angekommen? Wie entwickelt er sich weiter? Allen Vorurteilen und aller Skepsis zum Trotz haben sich am Ende doch wohl die meisten Menschen mit der multireligiösen Situation in Deutschland abgefunden. Die Mehrheit der Muslime fühlt sich in Deutschland auch durchaus zu Hause.2 Vor diesem Hintergrund sind die Muslime in Deutschland auf dem Weg, ein gleichberechtigter und normaler Bestandteil der Gesellschaft neben anderen Religionsgemeinschaften zu sein. Lange wurden islamische Theologen und Imame von den muslimischen Gemeinden aus den Herkunftsländern nach Deutschland eingeladen. Staatliche Stellen in Deutschland hatten wenig Interesse an einer Entwicklung islamischer Theologie in Deutschland. Diese strukturelle Diskriminierung der Muslime resultiert daraus, dass der Islam nicht als vollgültige Religionsgemeinschaft anerkannt ist und daher nicht alle damit verbundenen Rechte besitzt, wie etwa die Einrichtung von Islamischem Religionsunterricht, Theologischen Fakultäten etc. Erst in den letzten Jahren wurde die Bedeutung des Themas für die religiöse Partizipation und Integration der Muslime von nahezu allen politischen und gesellschaftlich relevanten Akteuren verstanden und anerkannt.


Ich möchte mich im Folgenden der Frage, ob und wie der Islam zu Deutschland gehört, aus drei Blickwinkeln annähern: 


Der erste Blick betrifft den Islamischen Religionsunterricht und die Entwicklung Islamischer Theologie an deutschen Universitäten. Der zweite nimmt das Verhältnis zwischen Scharia und Verfassungsstaat in den Fokus. Der dritte betrachtet allgemein die Frage, warum der Islam angeblich nicht zu Deutschland gehören soll. 


Empirisch ist noch wenig untersucht, wie es um den Islam in Deutschland bestellt ist. Die Forschung steckt in den Kinderschuhen, viele Daten sind einfach noch nicht erhoben, geschweige denn ausgewertet. Fest steht, dass ­inzwischen über vier Millionen Muslime in Deutschland leben und der Islam somit zur drittgrößten Glaubensgemeinschaft geworden ist. Die Meisten davon sind hier geboren und fühlen sich hier zu Hause; die allgemeine Religionsfreiheit erlaubt auch ihren Glauben. Von dieser Seite ist der Islam also durchaus in Deutschland heimisch geworden. Wie aber sieht es mit der allgemeinen Anerkennung in der Mehrheitsgesellschaft aus? Sollte man überhaupt noch von Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft sprechen, wenn es um die Frage geht, ob der Islam in Deutschland heimisch ist? Vielleicht liegt das Ziel eher darin, die Grenzen zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft aufzuweichen und eine Gesellschaft anzustreben, die in ihrer Vielfalt gemeinsam in Deutschland beheimatet ist. Im Blick auf dieses Ziel müssen wir allerdings noch ein ganzes Stück Wegs zurücklegen. Die hier erstrebte Gemeinsamkeit betrifft ja nicht nur so etwas wie Nachbarschaft, Freundschaft oder den Arbeitsplatz, sondern das gesamtgesellschaftliche Miteinander. Dazu bedarf es der Öffnung, des Dialogs, des Respekts und der Toleranz auf allen Seiten. Solange die Religionsfreiheit bloß auf dem Papier steht oder bloß rechtlich umgesetzt wird, gibt es kaum Probleme im gesellschaftlichen Zusammenleben. Erst wenn das Recht auf Religionsfreiheit de facto umgesetzt werden soll, treten die Konflikte auf. Der Bau von Moscheen – auch mit Minaretten –, der Gebetsruf, die kopftuchtragende Lehrerin, ja sogar mittlerweile Schülerin, Kassiererin und Ärztin; der Wunsch auf Gleichbehandlung und Anerkennung des Islam als Religions­gemeinschaft, all dies sind und bleiben ungelöste Probleme in der Islamdebatte in Deutschland. Von den Rechten, die allen anderen Religionsgemeinschaften zustehen, wie etwa der massiven staatlichen Förderung, dem Bau von konfes­sionellen Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Krankenhäusern, Altersheimen, Förderwerken etc. sind die Muslime weit entfernt. Selbst die Forderung danach wird gleich so missverstanden, als würde die Bildung einer Parallel­gesellschaft beabsichtigt. Es sind aber auch einige vernünftige Schritte eingeleitet worden, die vielversprechend sind. 


Einen Schritt in diese Richtung bieten sicherlich die Einführung des ­Islamischen Religionsunterrichts und die Etablierung Islamischer Theologie an deutschen Universitäten, welche einen wissenschaftlichen Dialog und die oben genannte notwendige Forschung ermöglicht und zudem wissenschaft­liches Personal für die hier ansässigen Moscheen ausbildet. 


2. Islamischer Religionsunterricht


Der Prozess der Beheimatung funktioniert in erster Linie über die hier lebenden muslimischen Kinder und Jugendlichen. Hier geboren und sozialisiert, sind sie bereits stark mit Deutschland verbunden; die deutsche Sprache beherrschen sie ganz selbstverständlich. Ihre Religion findet aber häufig de facto quasi in einer anderen Welt statt, in der Familie und in der Moschee, wo eine andere Sprache gesprochen wird und andere Traditionen gepflegt werden. Dies stellt erst einmal keine Schwierigkeit dar, solange sich diese beiden »Welten« nicht berühren. Ins Schwimmen kommen muslimische Kinder und Jugendliche jedoch in dem Augenblick, wenn sie über ihren Glauben ins Gespräch kommen wollen und zwar außerhalb ihrer Gemeinde. Hier fehlt ihnen schlicht und einfach das Vokabular. Christliche deutsche Fachbegriffe meinen vielleicht Ähn­liches, lassen sich jedoch nicht einfach adäquat einsetzen, so sie denn überhaupt bekannt sind.


Muslimischen Kindern und Jugendlichen in Deutschland fehlt die reli­giöse Sprachfähigkeit, was sich im Versuch des Austauschs ungefähr so ­schwierig gestaltet, als wollte ich mit meiner Alltagsprache einen medizinischen Fachvortrag halten. Man stelle sich vor, was mit der Menge und der Intensität der Vorurteile geschehen wäre, hätten Kinder und Jugendliche bereits in den letzten zehn Jahren frei und selbstverständlich über ihre Religion Auskunft geben 
können.


Dass Islamischer Religionsunterricht nun auf dem Wege ist, schulisches Regelfach wie der evangelische und katholische Religionsunterricht zu werden, hat also im Bezug zum Dialog und zur Öffnung einen sehr hohen Stellenwert. Nicht vergessen werden dürfen natürlich die Akzeptanzsteigerung gegenüber dem Islam allgemein, der gesteigerte muslimische Selbstwert der Schülerinnen und Schüler, die ihre Religion an ihrem Lernort angekommen und ernst genommen sehen. So bedeutet Islamischer Religionsunterricht für die Beheimatung des Islam im Besonderen in Deutschland einen gewaltigen Fortschritt.


3. Imamausbildung in Deutschland


Mittlerweile hat sich die Einsicht in der Politik durchgesetzt, dass islamisch-theologische Einrichtungen im universitären Bereich aufgebaut und ein Islamischer Religionsunterricht flächendeckend eingeführt werden sollen. Die Islam-Wissenschaften konstituieren sich in Deutschland völlig neu und deshalb beobachten gerade viele Muslime diese Entwicklung sehr kritisch. Nach der causa Kalisch in Münster scheinen die Parteien meiner Einschätzung nach sensibler geworden zu sein. Will das Projekt nicht auf der Akzeptanzebene scheitern, muss für die muslimische Minderheit in Deutschland dasselbe gelten, was auch für die Kirchen gilt, d. h. Teilhabe und Gleichberechtigung etwa bei der Berufung der Lehrenden und Lehrplanentwicklung. Niemand möchte schließlich bevormundet werden, auch nicht im Namen einer tatsächlichen oder selbsternannten Aufklärung.


Hochschuldozenten für Islamische Theologie werden die Aufgabe haben, auf der Basis nachvollziehbaren und akzeptablen theologischen Wissens die religiösen Autoritäten und Imame für die Zukunft der Muslime in Deutschland auszubilden. Hierbei werden sie zahlreiche Faktoren zu beachten haben. In diesem Zusammenhang sind eine ausgewogene Grundpositionierung und guter Wille von allen Seiten unverzichtbar und zwingend erforderlich. Die Beteiligten müssen sich dessen bewusst sein, dass das Terrain hohe Komplexität aufweist.


Zu einseitige Ausrichtungen würden dieses sensible Projekt zum Scheitern verurteilen. Gegen jeden Versuch, die Entwicklung der Islamischen Theologie von außen bevormunden zu wollen und ihr im Gewand von Wissenschaftlichkeit etwa einen Methodenmonismus vorzuschreiben, wird von den Muslimen Einspruch erhoben werden. Ebenso werden einseitige Eingrenzungen der islamischen Wissenschaften durch staatliche Stellen einer authentischen und für die meisten Muslime akzeptablen Entwicklung im Wege stehen.


Islamische Theologie wird sich mit Blick auf die religiöse Lebenspraxis der Muslime, basierend auf den Glaubensgrundlagen ebenso wie auf Primärquellen, auf wissenschaftlichem Niveau analytisch-reflektiv auszurichten haben. Hierbei kann es nicht um bloße Verkündigung religiöser Überzeugungen gehen.Vielmehr werden diese Glaubenswahrheiten aus der Binnenperspektive der Angehörigen der Glaubensgemeinschaft reflektiert und in die jeweilige Zeit hineingelesen werden müssen. Islamische Theologen und Gelehrte subsumieren so normative Texte unter die Lebensrealitäten. Sie stellen diese in den jeweils neuen Kontext.


Die Begründung der eigenen Überzeugungen in einer plural verfassten Gesellschaft mit Blick auf die Probleme der Zeit macht eine Dialogorientierung und eine auf Vernunft basierende argumentative Auseinandersetzung 
der Theologie notwendig. Kernfrage der Theologie ist und bleibt der Sinn des Lebens und die Frage und Suche nach Gott. Alle anderen Themenblöcke kreisen um diesen großen inneren Kern. Hierzu gehören u. a. die existenzielle Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit des Menschen, dem Tod und Ende, der Jenseitsfrage, der Frage nach dem Maß für ein ethisch verantwortbares ­Leben und nach der Offenbarung.


Alles in allem bleibt die Qualität der Ausbildung elementar wichtig für die Akzeptanz und Bildung der religiösen Autorität. Diese Ausbildung wird sich, will sie auf Augenhöhe mit christlichen Theologien agieren, an bestimmten Maßstäben zu orientieren haben. Bekenntnisorientierung geht mit dialogischer Offenheit einher; konfessionelle Gebundenheit richtet sich zugleich auf interreligiöse Komponenten; Kontroversität orientiert sich am Konsens; schließlich bezieht sich die Ganzheitlichkeit auf die Korrelation. Islamische Theologen sind nicht nur aufgrund der Interessen der Muslime in Deutschland auszubilden, sondern auch, um sich qualitativ an gesellschaftlichen und ethischen Debatten beteiligen zu können.


Und genau hierin liegt ein weiterer Schritt der Beheimatung. Wünschenswert sind hier ausgebildete islamische Theologen aus Sicht der Mehrheits­gesellschaft, um im Dialog, im Austausch zu stehen und Transparenz zu ermöglichen, so dass Unsicherheiten und Ängsten entgegengetreten und Vertrauen geschaffen wird.


4. Scharia und Verfassungsstaat


Immer wieder ist zu hören, dass Muslime und Demokratie, beziehungsweise ­Islam und Verfassungsstaat nicht vereinbar seien, da der Islam bereits mit ­einem eigenen Rechtssystem, der Scharia, ausgestattet ist, das in seiner Funk­tionsweise, in seiner Tradition und seinen Auslegungs- und Umsetzungs­mechanismen von einer rechtsstaatlichen Verfassung mit ihren Judikativ-, ­Exekutiv- und Legislativinstanzen differiert.


In seiner wörtlichen Bedeutung bedeutet Scharia »breiter Weg«, bzw. »Weg, der aus der Wüste zur Tränke und Quelle führt«.3 Sie bestimmt mit ihrem Regelwerk menschliches Verhalten gegenüber dem Schöpfer, den Mitmenschen, der Natur und des Individuums gegenüber sich selbst. Bereits hier wird der umfassende Geltungsbereich der Scharia deutlich.4

Demgegenüber erfolgt die Definition von Recht durch zeitgenössische muslimische Gelehrte folgendermaßen: Das gesellschaftliche Zusammen­leben regeln Normen, die durch die Autorität einer Staatsgewalt Anwendung finden.5 Über diesen Rechtsbegriff hinausgehend hat die Scharia auch Auswirkungen auf Gottesdienst und Ethik und schließt Moralvorstellungen und genuin ­religiöse Vorschriften mit ein, die vom Recht im westlichen Sinne unberührt bleiben. So besteht zwischen den Begrifflichkeiten »Recht« und »Scharia« keine semantische Gleichheit und folglich kann ihre Gleichsetzung zwar nicht als falsch, jedoch als insgesamt unvollständig angesehen werden.6

Die Scharia strahlt mit ihren Auswirkungen auf Ethik und Moralvorstellungen in den privaten Bereich hinein, der von rechtlichen Regelungen unberührt bleibt. Gerade hier gehen Glaube und islamisches Recht ganz ­natürlich miteinander konform. Dennoch versuchen gegenwärtig zahlreiche muslimi­sche Gelehrte die staatliche Rechtssetzung von religiösen Normen zu befreien, mit der Begründung, diese Normen hätten ihren Geltungsanspruch ausschließlich auf persönlicher, privater Ebene und Religion wolle schließlich nicht den Staat bekehren und zu frommem Wesen erziehen, sondern die einzelnen Individuen.7

4.1. Zusammenhang von Islam und Welt


Die Trennung in »religiös« und »weltlich« gibt es als solche im Islam nicht. Jede weltliche Handlung mit ihr innewohnender religiöser Intention bekommt im Islam einen religiösen Eigenwert. Staat und Religion, bzw. Welt und Religion, gelten seit jeher in der herrschenden Lehre als Zwillingsbrüder. Die Welt stellt das Saatfeld für das Jenseits dar, beides ist eins und lässt sich nicht künstlich in zwei verschiedene Bereiche aufteilen.8Ein Ungleichgewicht mit stärkerer Gewichtung auf der weltlichen Seite führt zur Verminderung oder gar dem Ausschluss der Religion bei politischen Entscheidungsfindungen, so dass womöglich letztendlich Menschen für sich die Stellung Gottes beanspruchen und behaupten, sie hätten Macht über Leben und Tod. Ein Ungleichgewicht auf der anderen Seite zugunsten einer religiösen Fundierung des Staates kann gerade in der islamischen Welt zur Diktatur eines de-facto-Klerus führen.


So haben islamische Gelehrte zwar schon immer eine Einheit von Staat und Religion gefordert, jedoch nicht in dem Sinne, dass Theologen oder islamisch ausgedrückt die Ulamā’ Staatsführer werden sollten. Al-Ġazzālī (gest. 1111) beispielsweise, einer der einflussreichsten und m. E. fälschlich als engstirnig dargestellten Gelehrten des Mittelalters, warnt islamische Gelehrte davor, in die Dienste der politischen Machthaber zu treten. Diese Öffnung des menschlichen Geistes hin zum Weltlichen würde die Religion in Gestalt der Gelehrten dem Missbrauch anbieten. Gelehrte sollten ein Selbstverständnis der Kontrollinstanz entwickeln, sich selbst als Warner und Kritiker verstehen. Es gehe aus tiefster Glaubensüberzeugung heraus ohne Angst vor Repressalien um die Verteidigung der Rechte der Schwachen, was jedoch nur dann effektiv machbar sei, wenn sich islamische Gelehrte nicht von Politik und Machtstrukturen vereinnahmen ließen.9

Doch ergeben sich menschliche Werte im Islam aus den Vorgaben Gottes oder können sie aufgrund reiner Vernunft erkannt und festgelegt werden? 


Ob Vernunft maßgeblich zur Erkennung und Festlegung ethischer Maßstäbe beiträgt, ist in der Islamischen Theologie umstritten.10 Es gibt islamische Gelehrte, die dies mit der Begründung, Gott orientiere sich grundsätzlich durchgehend an einer bestimmten H ikma, an positiven Werten und am Wohl der Menschen, bejahen. Die gesamte Scharia beruhe daher auf Weisheit, Gerechtigkeit und Maslah a.11Demnach seien sämtliche Normen der Scharia gerecht und von der Idee der Weisheit und der Barmherzigkeit geprägt und durchdrungen.12

4.2. Wertebildung im Verfassungsstaat


Die Werte, auf denen der weltanschaulich neutrale Staat basiert, fußen auf überzeitlichen Normen, die gesamtstaatlich, also auch von den Religionen, getragen und gefordert werden – hier beispielsweise Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde, Solidarität und Frieden. 


Nach Böckenförde leben demokratische Gesellschaften von Voraussetzungen, die sie selbst nicht schaffen und erst recht nicht garantieren können. Religionen können hier mit ihrem Wahrheitsanspruch Hilfe bereitstellen.13Diesem Gedankengang weiter folgend kann hier keinesfalls ausgeschlossen werden, dass der Glauben der Mehrheitsgesellschaft das Gemeinwesen mitgeprägt. So wird eine stark im Christentum verankerte Gesellschaft sich eine andere Grundordnung, basierend auf den im Gewissen eines jeden bestehenden ethischen Überzeugungen, geben als eine muslimische, buddhistische oder areligiöse Gesellschaft. Auswirkungen dieser Glaubensprägung durch die Mehrheitsgesellschaft kann man z. B. in Deutschland gut im Bereich schulischer Erziehungsziele erkennen. Christliche Vorstellungen können in den Schulgesetzen vieler Bundesländer gefunden werden, diese werden dort deutlich benannt, jedoch ohne ­andere Überzeugungen zu verbieten oder zu diskriminieren. 


4.3. Werte im Verfassungsstaat aus islamischer Sicht


Da der weltanschaulich neutrale Staat auf Werten, auf überzeitlichen Normen, die gesamtstaatlich akzeptiert sind, fußt und diese auch von den Religionen getragen und gefordert werden, liegt hier erst einmal kein Widerspruch zwischen Verfassungsstaat und Scharia vor. Mit Werten wie Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Frieden wird sich ein Großteil aller Menschen weltweit identifizieren können. 


Was bedeutet dies nun für die Muslime in Deutschland im Zusammenhang mit einer durch die christliche Geschichte beeinflussten Verfassungsordnung, die Gleichberechtigung und Religionsfreiheit gewährt? Ausschlaggebend für Akzeptanz und Effektivität einer Verfassungsordnung im Sinne des Islams und der Menschen allgemein sollte meines Erachtens nicht ihre religiöse Legitimierung sein, sondern die gewährten Freiheiten in der jeweiligen Gesellschaft und die Einhaltung überzeitlicher Menschenrechte, die sich – wie oben angemerkt – immer bezogen auf die jeweilige Kultur und den zeitlich politischen und sozialen Kontext konkretisieren.14

4.4. Konsequenzen für Politik und Religion im Verfassungsstaat


Wie oben dargestellt basieren Politik und Religion auf einem ähnlichen Wertesystem und können folglich nicht zwei völlig unterschiedliche und unvereinbare Systeme darstellen.


Die Konsequenz für den Verfassungsstaat sieht dann folgendermaßen aus: Religionen sollten für Politiker Inspirationsquelle und Wegweiser sein, ohne Politik zu tragen und zu legitimieren, was ein entstehendes Ungleich­gewicht zwischen den verschiedenen Religionen zur Folge hätte und Freiheit und Gleichheit infrage stellen würde. Auf der anderen Seite können und sollten sich Religionen auch in der Politik zeigen und einbringen.


Da politische Strukturen von Menschen geschaffen wurden und als solche erst einmal keinen Eigenwert haben, müssen sie sich immer wieder begründen und legitimieren. Es gilt, dieses kritische Bewusstsein zu schärfen, so dass der Glaubende alles Etablierte entsprechend zu hinterfragen vermag.15

Hier stehen wir aktuell noch vor Schwierigkeiten, da die Einbringung muslimischer Fragestellungen und Kritik leider noch immer durch Ignoranz, kulturkämpferische Islamkritik und Angsttreiberei behindert wird. Als Folge besteht eine Reihe von verfestigten Vorurteilen und Phobien.16Diese festgefahrenen Sichtweisen gilt es aufzuweichen, um Dialog, Mitsprache und die Etablierung einer religiösen Ethik im politischen Rahmen zu ermöglichen.


Hier wird es sich als entscheidend für die Akzeptanz und die Etablierung religiöser Ethik im politischen Raum erweisen, die jeweilige Kernbotschaft des Christentums und des Islam deutlich zu benennen und sichtbar zu leben.


Schwierig gestaltet es sich hier, dass die politische Moderne und ihre Mechanismen bisher von islamischen Gelehrten kaum thematisiert werden, und wenn, dann in dem Bemühen, diese in apologetischer Weise islamisch zu vereinnahmen oder abzulehnen.


4.5. Brennpunkte zwischen Scharia und Verfassungsstaat


Spannungen zwischen Scharia und Verfassungsstaat entstehen beispielsweise in Bezug auf Symbole wie das Kopftuch, Fragen der Teilnahme am koedukativen Sport- und Schwimmunterricht, die Einhaltung der rituellen Gebete während der Schul- oder Arbeitszeit etc. Hier steht offen praktizierte Religiosität in einem Spannungsverhältnis zu einer anderen Vorstellung der Personenrolle der Frau. Unbestreitbar ist, dass Muslime und glaubende Menschen sich öffentlich zu ihrem Glauben bekennen dürfen. Sie dürfen zeigen, dass Gott sie ständig begleitet und in ihrem Wirken gewissermaßen näher ist als sie selbst.17Bekennende Muslime sollten sich und ihrer Lebensform im Miteinander nicht schämen und diese nicht verstecken müssen. Entsprechend sind der islamische Gruß, das Gebet, die Basmala, die ständige Andacht Gottes (Zikrullah) bei ­allen Handlungen etc. der beständige Ausdruck des permanenten Handlungsbezugs des Islam im Leben der Muslime.


5. Ausblick


Zu unterstreichen bleibt der Aufklärungs- und Informationsbedarf in Bezug auf die Imamausbildung in Deutschland und die Verbindung von Scharia und Verfassungsstaat – sowohl für die Mehrheitsgesellschaft als auch für die Muslime selbst in ihrem Spannungsverhältnis von gelebtem Glauben und säkular geprägter politisch-sozialer Realität. 


Zur Findung des eigenen Standpunktes sind die Religionen selbst und ihre Führer gefragt, das Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne, aktuellen Anforderungen, den Bedürfnissen der Menschen und den überzeitlichen Grundsätzen der Religion in einen Prozess zu begleiten, der im Sinne von Beheimatung Trennendes aufzuweichen und Verbindendes zu stärken vermag. Dies wird jedoch eine hier angekommene islamische Theologie benötigen, deren Aufbau mir sehr am Herzen liegt.


Hier geht es um aktive Mitgestaltung der Gesellschaft im sozialen und karitativen Bereich (Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Altenheime, Universitäten etc.), denn auch hierin liegt Heimat: Wo ich zu Hause bin, engagiere ich mich, bringe mich ein, werde ich bewusst Teil des Ganzen – konform oder kritisch, leise oder laut, ganz wie es die Situation erfordert. 


Auch – und gerade – so wird der Islam in Deutschland Profil bekommen durch Menschen, die sich zeigen. Dies fällt leider immer noch vielen Muslimen aufgrund ihrer Migrationsgeschichte schwer. Es wird immer wichtiger, dass auch Positionen der Muslime Einzug halten in Debatten zu ihrer rechtlichen Anerkennung und zu ihrer Stellung in der Mehrheitsgesellschaft. Schweigen unterstützt lediglich Vorurteile und Phobien. 


Eine wirkliche gesellschaftliche Integration und die damit einhergehende Beheimatung und Identifikation mit dem Gemeinwesen braucht ganzheitliche Partizipation und ein Umdenken auf allen Ebenen. Diskursbeteiligung kann jedoch nur auf Augenhöhe stattfinden, wenn diese und gleiche oder zumindest ähnliche Voraussetzungen für alle Bürger gegeben sind. Dies gestaltet sich für Muslime in Deutschland schwierig, da sie von der Mehrheitsgesellschaft oft noch als Fremde, bestenfalls als Gäste wahrgenommen werden.18 Hier wären »islamische Persönlichkeiten«, die intellektuell und sprachlich den Islam vor Ort repräsentieren können und auch bei der Mehrheitsgesellschaft Beachtung finden, hilfreich. 


Im Alltag haben die Prediger und Rechtsgelehrten mit Freitagspredigt, Fernsehauftritten, frommen Zeitschriften und Internetportalen einen starken Einfluss auf die konkrete Lebensgestaltung frommer Muslime, was den Ruf nach hier ausgebildeten und sozialisierten islamischen Theologen nochmals deutlich unterstreicht. Es ist nötig und an der Zeit, dass sich islamische Theologen, Religions- und Rechtsgelehrte auf den Weg machen, um eine Versöhnung mit den Inhalten der politischen Moderne anzusteuern, denn ohne diese Aussöhnung wird sich das gesellschaftliche Zusammenleben in Zukunft nach wie vor deutlichen Diskrepanzen gegenüber sehen.


Es hat sich verdeutlicht, dass eine Verbindung von Scharia und Rechtsstaat, also der Zustand, in dem Muslime in Deutschland leben, keinesfalls als problemlos einzustufen ist und folglich ein wichtiger Schritt in der Weiterentwicklung Islamischer Theologie an deutschen Universitäten besteht. Eine wirkliche Beheimatung des Islam in Deutschland wird ohne hier beheimatete Theologen kaum oder nur oberflächlich möglich sein. Hoffnung machen die vielen Grundsteine, die bereits gelegt sind mit der Etablierung von Islamischer Theologie an deutschen Universitäten und der Ausbildung von islamischem ­religiösen Personal für die Moscheen und dem Einzug Islamischen Religionsunterrichts in die Schulen. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass sich rund 90 % der Muslime in Deutschland als religiös und demokratisch zugleich bezeichnen, was auf eine Vereinbarkeit jenseits aller wissenschaftlicher Theorien hinweist. Vielleicht ist ja der normale Durchschnittsmuslim in Deutschland in seinem eigenen Beheimatungsprozess deutlich weiter, als der Wissenschaftler, der Journalist oder der Politiker glaubt.


  1. 1Siehe Renate Köcher, »Gefühle tiefer Fremdheit«, inFrankfurter Allgemeine Zeitung, 11.9.2001, S. 16; Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Projekt Zuwanderung und Integration. Türken in Deutschland – Einstellungen zu Staat und Gesellschaft,Sankt ­Augustin 2001; http://www.kas.de/wf/doc/kas_12-544-1-30.pdf?040415175005 (27.5.2011); ders., 
Projekt Zuwanderung und Integration Türken in Deutschland II – Individuelle Perspektiven und Problemlagen,Sankt Augustin 2002; http://www.kas.de/db_files/dokumente/arbeits­papiere/7_dokument_dok_pdf_201_1.pdf (27.5.2011); Gernot Rotter, »Das Islambild im Westen und das islamische Bild vom Westen«, in Christoph Burgmer (Hg.), Der Islam – Eine Einführung durch Experten, Mainz 1998, S. 97–110, 105; Hartmann Wunderer, »Schrille Töne … Zum Schwierigen Verhältnis von Deutschen, Türken und Islam«, in Sozialwissenschaftliche Informationen 30 (2001), S. 3–9; Wolfgang G. Lerch, »Im Wandel der Zeiten: Das Bild des Islams im ›Westen‹«, in Ost-West Europäische Perspektiven 5 (2004), S. 34–41.

  2. 2Vgl. von Wilamowitz-Moellendorff, Projekt Zuwanderung (Fn. 1); ders., Projekt ­Zuwanderung II (Fn. 1).

  3. 3Hans Wehr,Arabisches Wörterbuch für die Schriftsprache der Gegenwart, Wiesbaden 31958, S. 424; Ibn Manzûr, Lisân al-῾arab, Beirut 1955, Bd. 8, S. 175; Andreas Renz, »Offenbarung als ›Wegweisung‹ – Glaube als Weg. Soteriologische Metaphern in Judentum, Christentum und Islam«, in Hansjörg Schmid, Andreas Renz und Jutta Sperber (Hg.), Heil in Christentum und Islam. Erlösung oder Rechtleitung?, Stuttgart 2004, S. 71; siehe im Koran auch 42/13, 5/48, 45/18.

  4. 4Süleyman Uludağ,İslam siyaset ilişkileri, Istanbul 1998, S. 196 ff.; Hayrettin ­Karaman, Islam hukuk tarihi, Istanbul 21989, S. 23; Davut Iltas, Sosyal Şartlar Bağlamında Kurani Kerimdeki hukuki hükümler, Kayseri 1996, S. 9/100–101; Norman Calder, »Shari῾a«, in EI NE, Bd. 11, S. 321; vgl. auch Koran 45/18, 42/13, 5/48.

  5. 5Karaman, Islam hukuk tarihi (Fn. 4), S. 23.

  6. 6Iltas, Sosyal Şartlar Bağlamında(Fn. 4), S. 100–101.

  7. 7Vgl. bspw. Mehmet Emin Gerger,Sagci, Solcu ve Islamcilara göre din, siyaset ve laiklik, Istanbul 21991; Ahmed Selim, Din, medeniyet ve laiklik, Istanbul 1991, S. 291–378.

  8. 8Siehe für zahlreiche Nachweise hierzu Süleyman Uludağ, »Dünya«, inTürkiye Diyanet Vakfı İslam Ansiklopedisi, Bd. 10, Ýstanbul 1994, S. 22–25.

  9. 9Al-Ġazzālī,Ihyā ‘ulūm ad-dīn, Bd. 1, Istanbul 1972, S. 51, 109, 174. Er begründet dies allerdings damit, dass die Herrscher ungerecht seien und die Gelehrten bei Kontakt mit diesen die Fatwas den Wünschen dieser Herrscher entsprechend ausrichten 
müssten.

  10. 10Ali Bardakogˇlu, »Hüsn ve Kubh konusunda aklın rolü ve İmam Maturidi«, inErciyes Üniversitesi İlahiyat Fakültesi, Dergisi 1987, S. 59–75; Ali Pekcan, İslam hukukunda gaye problemi: Zaruriyyat – Haciyyat – Tahsiniyyat, İstanbul 2003, S. 41 f.

  11. 11Abū al-H usain al-Basrī,Kitâb al-mu‘tamad fī usūl al-fiqh, 2 Bde., ed. M. H amī-
dallāh, Dasmakus 1964 (ND Beirut 1983), Bd. 2, S. 315; al-Ğuwainī, al-Burhān fī usūl al-fiqh, Kairo 1400, Bd. 1, S. 87. 

  12. 12Ibn Qayyim al-Ğauzīya,I‘lām al-muwaqqi ‘īn ‘an rabb al-‘ālamīn, 4 Bde., Beirut o. J., Bd. 3, S. 3.

  13. 13Andere haben sich so sehr dem Zeitgeist geöffnet und gehen mit der Forderung nach der Toleranz soweit, dass sie selbst den Wahrheitsanspruch der Religionen für diskriminierend bewerten. Şinasi Gündüz, »Religiöse Minderheiten und gesellschaftliche Gleichberechtigung in Zivilgesellschaften«, in Deutsche Botschaft Ankara (Hg.), Islam und Europa als der Thema der deutsch-türkischen Zusammenarbeit. III. Religion und Tradition: Determinanten moderner Zivilgesellschaften?, Tarabya, 12./13. Juni 2004, Ankara 2004, S. 59–64, 60.

  14. 14Siehe hierzu auch die Position des einflussreichen türkischen Predigers Fethullah Gülen, »Demokratie sollte auch eine metaphysische Dimension haben«, inZaman, Sonderbeilage Juni 2004, S. 17 f.; siehe zu seiner Person auch Bülent Uçar, Recht als Mittel zur Reform, Würzburg 2005, S. 201 f.

  15. 15İlhami Güler, »Dünyanın başına gelen ›derin sapkınlık‹ dünyevileşme«, in ders., Politik teoloji yazıları, Ankara 2002, S. 9–38, 37.

  16. 16Rotter, Das Islambild (Fn. 1); Wunderer, Schrille Töne (Fn. 1); Lerch, Im Wandel der Zeiten (Fn. 1).

  17. 17Vgl. Sure 50,16.

  18. 18Vgl. Köcher, Gefühle (Fn. 1).
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Heft 7 (2011)
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