Editorial
Die Rede vom säkularen oder postsäkularen Zeitalter, in dem wir derzeit leben, ist allgegenwärtig. Offen bleibt die Frage, was genau unter dem Begriff Säkularisierung überhaupt verstanden werden soll und wie man das viel beschworene »säkulare Zeitalter« begrifflich klarer fassen kann als nur in einer Abkehr vom Religiösen. Diesem Schwerpunkt-Thema widmet sich das aktuelle Heft der Denkströme.
Im modernen Selbstverständnis (west)europäischer Gesellschaften ist die Trennung von Kirche und Staat ein Kernelement, wenngleich sie verfassungsmäßig erst mit der Französischen Revolution beginnt und in der weiteren Durchführung durchaus vielgestaltig ist, wie die Beiträge von Helmut Goerlich sowie Monika Wohlrab-Sahr und Marian Burchardt deutlich machen. Allerdings ist der Gegensatz säkular–religiös viel älter als die Säkularisierungen nach der Zeit der Aufklärung. Die Bestimmung des Bereiches einer (politisch, rechtlich und ökonomisch verfassten) ›Welt‹ im Kontrast zu einem ›göttlichen‹ Bereich des ›Religiösen‹, samt der Unterscheidungen zwischen dem Profanen und Sakralen ist eben daher klärungsbedürftig. Ingolf Dalferth stellt dazu fest, dass gegenwärtig das Wort »säkular« im Kontext einer Absetzbewegung vom Religiösen gebraucht wird, was die religiösen Traditionen als frühere Normalfälle logisch voraussetzt. Erst in einer postsäkularen Gesellschaft wäre demnach keine gesetzliche Regelung religiöser Toleranz nötig, da eine ›Duldung‹ von Religionen überflüssig wird, wenn die Anerkennung der Verschiedenheit religiöser Bekenntnisse eine Selbstverständlichkeit wird.
Gert Melville weist in seinem interessanten Beitrag auf die Differenz eines Weltgeistlichen zu einem homo religiosus, einem Mönch oder einer Nonne hin, wobei das bloß scheinbar weltabgewandte Leben im Kloster, besonders dann aber die Predigerorden, wichtigste Folgen für die Entwicklung okzidentaler Zivilisation haben. Die Kulturleistungen des Mönchtums beschränken sich dabei nicht auf die bekannten Bereiche der Agrarkultur, von Walahfrid Strabos Hortulus bis zum Weinbau und zur Bierbraukunst, auch nicht auf die Rettung von anderen Resten mediterraner Zivilisation, Erziehung, Bildung und Schriftkultur schon im Benediktinerorden. Gerade auch die Organisation kooperativer Selbstbestimmung von Institutionen durch Konvente und Wahlen und die Unterscheidung zwischen ›Sünde‹ und einem bloßen Bruch einer ›Satzung‹ wird hier entwickelt – was am Ende zur Differenzierung zwischen allgemeiner Moral und positivem Recht führt. Die Praxis der Erforschung des Gewissens, der con-scientia oder cordis scientia im Kontext des Sakraments der Buße ist eine Art Export aus dem Leben des religiösen Menschen in die weltliche Gesellschaft. Sie führt zu einer Erziehung des Menschengeschlechts unter dem Ideal der Ehrlichkeit. Die Perfektion dieser Selbstkontrolle hat aber auch eine moralische Selbstgewissheit zur Folge, welche in Selbstgerechtigkeit umschlagen kann, besonders auch bei religiösen Reformern und Revolutionären, Häresiarchen oder Bekennern. Die Kette reicht bis zu den Zeloten der bürgerlichen und proletarischen Revolution wie Robespierre und Lenin und anderen selbsternannten Erben der sogenannten Aufklärung – zu welcher unser Band eine kleine Diskussion zwischen Johannes Bronisch und Detlef Döring enthält, während Ortrun Riha und Thomas Schmuck einige ihrer Folgeerscheinungen im Russland des 18. und 19. Jahrhunderts betrachten.
Der Erinnerung an die große Kulturleistung des Mönchtums in und für Mitteldeutschland ist auch das Projekt von Enno Bünz gewidmet, in welchem die sächsischen Klosterbücher erforscht werden. Landeskundliche Themen verhandeln dann ebenfalls Inge Bilys Aufsatz zu geographischen Namen und Heidrun Wozels Untersuchung zu Brauchtum und Festen. Ohne Kenntnis religiöser Kulturtradition ist auch ein Oratorium wie Mendelssohns Elias nicht zu verstehen. Wie der Beitrag von Christian Martin Schmidt zeigt, steht dabei eine transkonfessionelle und damit durchaus säkulare Dramatisierung der Erzählung der jüdischen Bibel im Kontrast zum christlichen Evangelium und zu kirchlichen Erbauungsliedern im Vordergrund. Nicht mehr weit ist jetzt der Weg zu Anja Pistor-Hatams Aufdeckung der Unwahrhaftigkeiten in der modischen Erfindung einer ›jüdisch-christlichen‹ Herkunft und Bülent Uçars Frage, wie wir in einer zusammenwachsenden Welt mit der Nachbar- oder Bruderreligion Islam umgehen. Richards Saages Aufsatz bietet danach eine Zusammenschau vielfältigster Antworten auf die grundsätzliche Frage »Was ist der Mensch?« – von religiös bis hin zu naturwissenschaftlich geprägten Modellen, von höchst allgemeinen Aussagen einer philosophischen Anthropologie bis hin zu konkreten Aussagen, orientiert an realgeschichtlichen Entwicklungen.
Im Blick auf das ethische Ideal der Ehrlichkeit beginnt die Moderne der Moralreflexion wohl erst mit Hegels Kritik an Kant. Nur subjektive Aufrichtigkeit oder Redlichkeit als bloße Übereinstimmung zwischen dem, was wir laut sagen, und dem, was wir öffentlich tun, reicht bei Weitem nicht aus, wie später auch Nietzsche erkennt und betont. Wahre Gewissenhaftigkeit ist weit mehr als ein gutes Gewissen oder ein bloß guter Wille. Sie ist sachkritische und selbstkritische Bemühung um das Rechte und Wahre, unter Anerkennung gegebener Normen und der freien Kritik besonders auch durch andere. Erst mit dieser Einsicht in die dialogisch-dialektische Form ethischer Vernunft ist das Bild davon, was Gott in unserem Herzen sehen mag, vollständig säkularisiert.