Ist Glauben menschlich?1
1. Zur Einführung
Was meint die Frage »Ist Glauben menschlich?«, auf die hier eine Antwort zu geben versucht werden soll? Geht es um Glauben, und falls ja, in welchem Sinn? Oder geht es um die Menschen, und falls ja, in welcher Hinsicht? Ist der Satz »Glauben ist menschlich« eine These, die vertreten wird oder der widersprochen werden soll? Was wäre die Gegenthese? »Glauben ist unmenschlich«? Oder »Nichtglauben ist menschlich«? Will man sagen, dass Menschen glauben, andere Lebewesen aber nicht? Oder dass Menschen erst dann wirklich menschlich leben, wenn sie glauben? Oder dass Menschen zwar glauben, aber nichts wissen können? Oder dass Glauben die Form ist, in der Menschen wissen, während es Wissen auch auf alle möglichen anderen Weisen gibt – in Büchern, Bibliotheken, Börsen, Behörden, Akademien, Verlagen, Unternehmen oder im Internet?
Oder geht es gar nicht um Glauben (eine sachverhaltsbezogene Wahrscheinlichkeitsvermutung: ›Ich glaube, dass das oder jenes der Fall ist‹), sondern um Glaube (eine personbezogene Vertrauenshaltung: ›Ich glaube dir‹; ›Ich glaube an dich‹) oder gar um den Glauben an Gott? Müsste man im Fall des Gottesglaubens aber nicht eher sagen, Unglaube ist menschlich, Glaube aber gerade nicht, weil dieser immer nur göttliche Gabe ist, aber keine menschliche Fähigkeit, keine menschenmögliche Haltung, kein menschlicher Besitz? Müsste man im Fall des Vertrauensglaubens nicht sagen, dass glauben keineswegs nur menschlich, sondern uraltes Herdentierverhalten ist, weil Kühe der Leitkuh und Hunde ihrer Herrin nicht weniger vertrauensvoll folgen als manche Menschen manchen anderen Menschen? Und müsste man im Fall des Sachverhaltsglaubens nicht präzisieren, ob es um ein epistemologisches Problem geht: ›Glauben ist menschlich, weil alle Menschen nach Wissen streben und das Streben nach Wissen eben das ist, was wir glauben nennen‹? Oder ob die wissenssoziologische These zur Debatte steht: Glauben ist menschlich, weil es Glauben nur als Glauben von Menschen geben kann, während Wissen als »die Gesamtheit aller organisierten Informationen und ihrer wechselseitigen Zusammenhänge, auf deren Grundlage ein vernunftbegabtes System handeln kann«2, heute nichts mehr mit Menschen zu tun hat, sondern ein bloßer Systembegriff ist? Das heißt: Wer von Glauben spricht, sagt stets, dass es jemanden gibt, der glaubt. Wer dagegen von Wissen spricht, sagt nicht, dass es jemanden gibt, der das weiß, sondern nur, dass dieses Wissen irgendwo implementiert und irgendwie repräsentiert ist.
Glauben ist menschlich, nicht zu glauben ist menschlich, glauben ist nicht nur menschlich, nicht nur glauben ist menschlich – um all das und noch manches andere kann es bei unserer Themathese also gehen. Auch der großzügigste Geist wird nicht behaupten wollen, dass das Wort ›glauben‹ in all diesen Fällen im gleichen oder gar im selben Sinn verwendet und verstanden wird. ›Glauben‹ kann vieles heißen, was es konkret heißt, hängt am Kontext, in dem es verwendet wird, und diese verschiedenen konkreten Verwendungsweisen lassen sich selbst bei hemmungsloser Übervereinfachung nicht in einen einsinnigen Glaubensbegriff integrieren.
Diese Verständnisvielfalt ist eine der Hauptquellen der vielen Missverständnisse, die sich mit dem Glaubensthema verknüpfen. Wollen wir das Thema daher einigermaßen vernünftig diskutieren, sollten wir eine Reihe von Distinktionen beachten, die der Gebrauch des Wortes ›glauben‹ in der alltäglichen Sprachpraxis nahelegt.
Menschen glauben, dass es regnet und dass die Regierung schlecht ist, sie glauben an Freunde und an sich selbst, sie glauben an Gott und die Windkraft, und sie glauben noch an viel mehr Dinge zwischen Himmel und Hölle, als man sich manchmal vorzustellen wagt. All diese vielfachen Weisen, von ›glauben‹ zu sprechen, nehmen Unterschiede in Anspruch, durch die das jeweils Gemeinte von anderem abgegrenzt und damit bestimmt wird. Diese Unterschiede lassen sich in vier Leitunterscheidungen bündeln, die den Sinn des Wortes ›glauben‹ in je anderer Hinsicht präzisieren:
- die grammatische Leitunterscheidung von Sachverhaltsglauben/Personglauben
- die erkenntnistheoretische Leitunterscheidung von Glauben/Wissen
- die anthropologische Leitunterscheidung von Glauben/Nichtglauben
- die theologische Leitunterscheidung von Glaube/Unglaube
Diese Leitunterscheidungen können in verschiedener Weise kombiniert, aber nicht aufeinander oder auf ein gemeinsames Anderes reduziert werden. Sie antworten nicht auf dieselbe, sondern auf verschiedene Fragen. Und deshalb können sie auch nicht ohne Verkürzungen und Verkrümmungen in ein einsinniges Verständnis von Glauben integriert werden. Es gibt, mit anderen Worten, nicht einen Begriff von Glauben und deshalb auch nicht nur ein richtiges Verständnis unseres Themas, sondern mindestens vier verschiedene Problemkreise. Ich erläutere das in der gebotenen Kürze in vier Gedankengängen.
2. Die grammatische Leitunterscheidung von Sachverhaltsglauben/Personglaube
Im Deutschen (und nicht nur da) wird der Ausdruck ›glauben‹ in dreifacher Weise gebraucht: Zum einen im Sinn eines Fürwahrhaltens von Sachverhalten (›Ich glaube, dass etwas der Fall ist‹); zum andern im Sinn, einer Person Vertrauen zu schenken (›Ich glaube jemandem‹) und zum dritten im Sinn eines Sichverlassens auf jemanden (›Ich glaube an jemanden‹).3
Das erste ist eine theoretische Haltung, die davon lebt, dass der Sachverhalt, der geglaubt wird, nicht dadurch zustande kommt, dass er geglaubt wird. Wer glaubt, dass es regnet, glaubt nicht, dass es regnet, weil er es glaubt; sondern weil es regnet, glaubt er es, wenn er es bemerkt. Er kann sich natürlich täuschen, dann ist sein Glaube falsch und er hat den Schirm umsonst mitgenommen. Aber er muss nicht glauben wollen, was er glaubt, sondern er kann gar nicht anders, als zu glauben, dass es regnet, wenn er es bemerkt: Glauben als Fürwahrhalten verdankt sich keinem Willen zum Glauben, es ist nicht die Folge einer Entscheidung, sondern – nicht nur, aber in wichtiger Hinsicht – die der Wahrnehmung eines Sachverhalts. Wer wahrnimmt, dass es regnet, kann nicht beschließen, es nicht zu glauben, so sehr er sich auch wünschen mag, dass es nicht wahr sein möge, denn das wäre nichts anderes als die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen.
Fürwahrhalten verdankt sich keinem Entschluss zum Glauben und es lässt sich durch einen Entschluss auch nicht beenden oder außer Kraft setzen. Wer das versucht, den halten wir mit Recht für wirklichkeitsblind oder für krank.
Das ist anders im zweiten und dritten Fall. Vertrauenschenken und Sichverlassen sind praktische Haltungen, die es nicht gibt, ohne dass man sich dazu entschließt oder sie durch Willensentschluss aufrechterhält. Ich muss niemandem vertrauen, sondern ich kann es. Ich kann dabei der Regel folgen ›Traue niemand, ehe er sich nicht als vertrauenswürdig erwiesen hat‹ oder ich kann jemandem vertrauen, um ihm oder ihr die Chance zu geben, sich vertrauenswürdig zu erweisen. Wenn ich jemanden auf der Straße nach der Uhrzeit frage, gehe ich nicht davon aus, dass er mich anlügt, sondern vertraue seiner Auskunft, sofern es keine guten Gründe gibt, das nicht zu tun. Die Vertrauensmaxime ›Traue jedem, solange nichts (oder nicht hinreichend viel) dagegen spricht‹, mag im Umgang mit Mitmenschen, Freunden oder Familienmitgliedern vernünftig und angemessen sein. Doch im Umgang mit Banken, Behörden oder Beamten sollten wir uns eher an die Misstrauensmaxime halten: ›Traue niemand, solange nichts (oder nicht hinreichend viel) dafür spricht‹. Beides freilich unterstreicht, dass wir anderen Menschen nicht glauben müssen, sondern können, und deshalb gibt es keinen Vertrauensglauben ohne einen Willensentschluss dazu.4
Das Wort ›glauben‹ verwenden wir also so, dass es theoretisch ein Fürwahrhalten von Sachverhalten (Sachverhaltsglauben) oder praktisch ein Vertrauen in bzw. Sichverlassen auf Personen (Personglauben) zu verstehen gibt. Das lässt sich weiter konkretisieren.
3. Die erkenntnistheoretische Leitunterscheidung von Glauben/Wissen
»Alle Menschen«, so schreibt Aristoteles im ersten Satz seiner Metaphysik, »streben [ὀρέγονται] von Natur aus [ϕύσει] nach Wissen [εἰδέυαι]«. Wissen ist Wissen von Wahrem. Stellt sich heraus, dass nicht wahr ist, was man zu wissen meinte, dann hat man es nicht gewusst, sondern sich geirrt.
Nach Wissen von Wahrem streben alle Menschen, meint Aristoteles. Hat er die Menschen nicht gekannt? Oder kannte er die Unterschiede nicht zwischen partikularen Sätzen und allgemeinen (›Manche Menschen streben nach Wissen‹) oder zwischen Feststellungen, dass etwas der Fall ist, und Wünschen, dass etwas der Fall sein möge (›Es wäre schön, wenn wenigstens ein paar Menschen nach Wissen strebten‹)?
Aristoteles kannte all diese Unterschiede sehr wohl und er formulierte seinen Eingangssatz in die (später sogenannte) Metaphysik in aller wünschenswerten Präzision. Wer nach etwas strebt, hat es noch nicht. Hätte man es, müsste man nicht mehr danach streben. Aber wie kann man nach etwas streben, wenn man es nicht kennt? Muss man nicht wenigstens wissen, dass man es nicht weiß, um danach streben zu können?
Wäre das wahr, wäre Aristoteles’ Satz von vornherein falsch. Er würde gewiss nicht für alle Menschen gelten, sondern allenfalls für ein paar Philosophen, und auch da nur für wenige. Im antiken Athen war es gerade einmal Sokrates, der das von sich sagte. Aristoteles formuliert daher vorsichtiger: Wir streben nach Wissen nicht deshalb, weil wir wissen, dass wir nicht wissen, sondern ›von Natur aus‹. Menschen sind Wesen, die nach Wissen streben, weil sie als Menschen nicht anders können. Nicht das Wissen, dass wir nicht wissen, macht uns zu Menschen, sondern weil wir Menschen sind, streben wir nach Wissen – ohne zu wissen, was wir da tun und was uns fehlt. Nicht Wissen, sondern das Streben nach Wissen ist menschlich.5
Mit dem Streben nach Wissen sind wir schon ziemlich nahe an dem, was man später ›glauben‹ genannt hat. Zu diesem Streben nach Wissen gehört nicht, dass man weiß, dass man danach strebt. Glauben ist menschlich, nicht Wissen, dass man glaubt. Wir müssen nicht wissen, dass das Streben nach Wissen menschlich ist, um menschlich zu sein. So hat es Joseph Simon verstanden: »Wenn der Mensch als das Lebewesen gedacht ist, das den Logos hat, und das Wesen von etwas (τὸ τί ἦν εἶναι) als das, wovon der Logos die Definition oder die Wesensbestimmung ist (ὅσων ὁ λόγος ἐστὶν ὁρισμός),6 dann ist vorausgesetzt, daß der Mensch von sich selbst die wahre Wesensbestimmung habe, dergemäß er den Logos bestimme, in dem das Wesen von allem ausgesagt wird.«7 Der Mensch weiß, wer und was er in Wahrheit ist: das Logoswesen. Kennt der Mensch aber sich selbst, dann kennt er den Logos, in dem und durch den er alles erkennt, was sich erkennen lässt. ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ heißt dann: ›Erkenne, was Du bist (nämlich Logos), dann weißt Du alles, was Du erkennen kannst.‹ Doch das ist eher eine transzendentalphilosophische Denkfigur8 als das, was der Menschenbeobachter Aristoteles sagt. Menschen streben von Natur aus nach Wissen, aber sie sind nicht erst dann Menschen, wenn sie wissen, dass sie das tun. Die Geburt, nicht der erste Schultag ist das Eintrittsbillet ins Menschsein.
Von Natur aus nach Wissen zu streben, heißt, dass man gerade insofern Mensch ist, als man nach Wissen strebt, weil man gar nicht anders kann (und nicht etwa, weil man weiß, dass man das tut oder tun soll). Philosophen unterscheiden sich von anderen Menschen nicht durch ihr Streben nach Wissen, sondern dadurch, dass sie wissen, dass sie nichts wissen. Aber ob wir das wissen oder ob nicht: Wir sind Wesen, die nach Wissen streben – das zeichnet Aristoteles zufolge uns Menschen aus. Aber wem gegenüber zeichnet uns das aus und wovon werden wir dabei unterschieden?
Zum einen von denen, die wissen und nicht nur nach Wissen streben. Und zum anderen von denen, die weder wissen noch nach Wissen streben. Das erste kann man von den Göttern oder von Gott, nur gelegentlich, in bestimmter Hinsicht und näherungsweise dagegen vom Menschen sagen: Menschen sind nicht Götter und meist wissen sie die Wahrheit nicht, sondern müssen sich mit Meinungen herumschlagen. Das andere gilt von den Tieren: Zwar streben auch sie, aber nicht nach dem Wissen von Wahrheit, sondern nach der Sicherstellung dessen, was zu ihrem Überleben notwendig ist. Wissenstreben ist das, was den Menschen von den Tieren unterscheidet und den Göttern ähnlich macht. Diese haben die Wahrheit. Wir streben danach, sie zu wissen. Die Tiere leben, ohne danach zu streben. Oder anders gesagt: Die Götter wissen die Wahrheit. Wir streben danach. Die Tiere interessiert das nicht.
Das Wissen, nach dem wir Aristoteles zufolge streben, ist wahrheitsbezogen. Das machte seine metaphysische These auch theologisch interessant. Denn ist Gott die Wahrheit, dann ist das Streben nach Wahrheit im Streben nach Wissen ein Streben nach Gott. ›Glauben ist menschlich‹, weil nicht die Tiere, sondern nur die Menschen nach Wissen und damit nach der Wahrheit streben, die Gott ist.
Der Wahrheitsbezug wird so zum zentralen Kriterium, um zwischen Wissen, Glauben und Meinen zu unterscheiden als verschiedenen Weisen, sich auf Wahrheit zu beziehen. Dabei kommt es zu einer eigenartigen Entwicklung: Zunächst sind Glauben und Wissen auf dasselbe Ziel hin ausgerichtet (Wahrheit), das Wissen ist dem Glauben gegenüber aber selbständig (wer weiß, braucht nicht – mehr – zu glauben). Dann wird Glauben auf das hin zugespitzt, was wir nicht wissen, sondern nur glauben können: die göttliche Wahrheit. Im Gegenzug dazu säkularisiert die Moderne das Glauben und integriert das Wissen in das Glauben (Wissen ist der Grenzwert eines hochwahrscheinlich wahren Glaubens). Und heute wird entweder nur noch von Glauben (belief) gesprochen und auf den Wissensbegriff verzichtet, oder Wissen und Glauben werden so entkoppelt, dass Wissen als Systembegriff fungiert, der mit dem Glauben als subjektiver Wahrscheinlichkeitsvermutung nichts mehr zu tun hat. Ich erinnere knapp an die wichtigsten Entwicklungsetappen des Problems.
3.1. Vom Wissen zum Glauben
(1.) Entweder wissen oder glauben: Das antike Denken – ich halte mich an Augustins Schrift De mendacio9 – unterschied zwischen meinen (opinari), wissen (scire) und glauben (credere). Meinungen sind immer mit einem Fehler (vitium) verbunden. Wer meint, glaubt zu wissen, was er nicht weiß. Er sucht daher nicht weiter und versäumt dementsprechend in falscher Gewissheit, seine Meinung zu überprüfen und sie zum Wissen fortzubestimmen. Der Glaubende dagegen weiß, dass er nicht weiß, was er glaubt, obgleich er nicht an dessen Wahrheit zweifelt. Eben deshalb bemüht er sich darum, sein Glauben zum Wissen zu machen. Der Wissende schließlich weiß, dass wahr ist, was er weiß und dass er nicht fehlgehen kann.10 Denn Wissen (scire) ist semper sine vitio, also stets wahr. Sollte sich etwas, was wir zu wissen meinen, als falsch herausstellen, wäre damit auch klar, dass es kein Wissen, sondern eben nur ein Meinen war. Wer weiß, braucht nicht mehr zu glauben, und wer glaubt, weiß noch nicht und strebt eben deshalb nach Wissen.
(2.) Sowohl wissen als auch glauben: Diese Analyse des Verhältnisses von scientia, fides und opinio wird im mittelalterlichen Denken in Grundzügen übernommen11 und in mannigfachen Variationen tradiert. Auch Thomas von Aquin definiert: »fides est media inter scientiam et opinionem«.12 Der Glaube besitzt zwar nicht die Sicherheit beweisbaren Wissens, aber er geht über das bloße Meinen hinaus, insofern die »fides importat assensum intellectus ad id quod creditur.«13 Zu diesem assensus wird die fides einerseits »movetur ab ipso objecto«, also von dem, worauf sie sich richtet und woran sie glaubt, andererseits aber auch »per quamdam electionem voluntarie declinans in unam partem magis quam in aliam«, also vermöge einer Wahlentscheidung, die willentlich mehr der einen als der anderen Seite zuneigt. Wird eine solche Entscheidung unter Zweifel und Besorgnis getroffen, ob nicht doch vielleicht die andere Seite die richtige sein könnte, handelt es sich um eine opinio, geschieht sie ohne eine solche Besorgnis, um fides. Deshalb ist es zwar unmöglich, dass man dasselbe zugleich weiß und glaubt, aber es ist keineswegs ausgeschlossen, dass das, was der eine weiß, ein anderer nur glaubt.14
(3.) Fürwahrhalten: Am Ende der Aufklärungsepoche wird diese Tradition der Glaubensanalyse von Kant in der Kritik der reinen Vernunft in klassischer Weise aufgegriffen und als Unterscheidung von drei Arten des Fürwahrhaltens von Sachverhalten oder Propositionen dargestellt.15 Wer etwas meint, hält es zwar für möglich, aber er ist weder im Blick auf den Sachverhalt (also objektiv) noch im Blick auf sich selbst (also subjektiv) davon überzeugt, dass es auch wirklich (so) ist. Meinen ist ein ›problematisches‹ oder ›vorläufiges‹ Urteilen, das sich als falsch oder richtig herausstellen kann. Wer etwas glaubt, ist dagegen zwar subjektiv davon überzeugt, dass es nicht nur möglich, sondern auch wirklich ist, aber er hat keine objektiven Gründe, um die Wahrheit seiner Überzeugung auch als allgemeingültiges Wissen zu vertreten. Glauben ist deshalb ein assertorisches Urteilen über einen Sachverhalt, den ich für wahr halte, ohne das beweisen zu können. Wer etwas weiß, ist schließlich nicht nur subjektiv überzeugt, dass es wahr (möglich und wirklich) ist, sondern es gibt dafür auch objektive und für andere nachvollziehbare Gründe. Wissen ist ein apodiktisches Urteilen, das die begründete Gewissheit artikuliert, dass der zur Debatte stehende Sachverhalt wahr ist.
(4.) Alles ist glauben: Kants Versuch, Meinen, Glauben und Wissen als unterschiedlich starke Arten des Fürwahrhaltens auf eine Reihe zu bringen, ist in neueren Ansätzen doxastischen Glaubens im Rahmen einer Logik des Glaubens (belief) fortentwickelt worden.16 Glauben, dass etwas der Fall ist, heißt glauben, dass es wahrscheinlicher ist als sein Gegenteil.17 Wer glaubt, dass heute Freitag ist, glaubt, dass es wahrscheinlicher ist, dass heute Freitag ist, als dass irgendein anderer Wochentag ist. Wissen und Meinen werden so zu Grenzfällen des Glaubens. Ordnet man Sachverhalten eine subjektive Wahrscheinlichkeit zwischen 0 und 1 zu, je nachdem wie wir auf ihrer Basis zu handeln geneigt sind, dann bietet Meinen als ein Glauben von subjektiv für eher unwahrscheinlich gehaltenen Sachverhalten eine schlechte Basis für vernünftiges Handeln und Wissen als ein Glauben von (nahezu) für gewiss gehaltenen Sachverhalten eine recht gute, während Glauben eine rationalere Handlungsgrundlage darstellt als Meinen, aber eine weniger rationale als Wissen. Deshalb ist es immer geboten, Meinen in Glauben und Glauben in Wissen zu überführen, um vernünftiger leben und handeln zu können. Aber diese Überführung ist kein Übergang in etwas kategorial anderes als Glauben, sondern eine Steigerung der Glaubenswahrscheinlichkeit, die unser Handeln leitet.
Wissen ist damit zum Grenzfall des Glaubens (belief), Glauben zur Schwachform von Wissen geworden. Hieß es bei Aristoteles ›Das Streben nach Wissen ist menschlich‹, so heißt es jetzt ›Glauben ist menschlich‹, wobei ›glauben‹ als eine subjektbasierte Form des wahrscheinlichkeitsgeleiteten Fürwahrhaltens verstanden wird.
Der Preis für diese elegante Lösung ist allerdings hoch: Auf der einen Seite wird der Wissensbegriff systematisch überflüssig, auf der anderen wird der Glaubensbegriff epistemologisch verkürzt.
3.2. Vom Wissen ohne Glauben
Zunächst wird Wissen im Rahmen der skizzierten Entwicklung als gerechtfertigter wahrer Glauben bestimmt. Für einen Sachverhalt p (›Der Eurorettungsschirm hält‹) gilt: Ein Subjekt S weiß, dass p, dann und nur dann, wenn (1) S glaubt, dass p (Überzeugungsbedingung), wenn (2) p wahr ist (Wahrheitsbedingung) und wenn (3) S gute Gründe hat, zu glauben, dass p (Rechtfertigungsbedingung). Die Überzeugungsbedingung besagt: Man kann nur wissen, was man auch glaubt; die Wahrheitsbedingung: Man kann nur wissen, was wahr ist; die Rechtfertigungsbedingung: Man muss Gründe für seine Überzeugung anführen können. Jede dieser Bedingungen wirft Probleme auf, vor allem aber die dritte Bedingung ist, wie Edmund Gettier gezeigt hat, ungenügend, weil man leicht Beispiele konstruieren kann, die ihr genügen, ohne dass man sagen würde, es liegt Wissen vor.18 So kann ich gute Gründe haben zu glauben, dass der Eurorettungsschirm hält, weil die Regierung es verbindlich erklärt hat. Tatsächlich aber hat die Regierung es nur behauptet, weil sie an der Macht bleiben wollte, und es selbst nicht geglaubt. Wenn der Eurorettungsschirm trotzdem hält, habe ich zwar zu Recht geglaubt, dass es so sei, aber ich habe es nicht gewusst, weil ich keine guten und richtigen, sondern falsche Gründe hatte.
Man hat viel Scharfsinn darauf verwendet, diese Mängel zu beheben und eine haltbarere Bestimmung von Wissen vorzulegen. Doch die Schwierigkeiten scheinen sich umfassend kaum ausräumen zu lassen. Angesichts dieser Sachlage gibt es folgende Möglichkeiten:19
(1.) Nicht Begriff, sondern Netz: Man kann mit Wittgenstein argumentieren, der Alltagsbegriff ›Wissen‹ habe keine scharfen Grenzen, sondern seine verschiedenen Verwendungsweisen wiesen allenfalls Familienähnlichkeiten auf, die man mehr oder weniger genau beschreiben, aber nicht auf einen Begriffskern notwendiger und hinreichender Bedingungen reduzieren könne.
(2.) Nicht ein Begriff, sondern verschiedene: Man kann versuchen, ›Wissen‹ als einen diffusen Begriff bzw. Komplexbegriff zu verstehen und typische Merkmale für das anzugeben, was in bestimmten Kontexten als Wissen gilt, ohne an einem einheitlichen Begriff des Wissens festzuhalten.20
(3.) Entkoppelung von Wissen und Glauben: Man kann den Wissensbegriff ganz auf den Aspekt des Informationsgehalts reduzieren und, mit Robert Solso, als »Speicherung, Integration und Organisation von Information im Gedächtnis« definieren. Oder noch allgemeiner und ohne Bezug auf das Gedächtnis: »Wissen ist organisierte Information, es ist Teil eines Systems oder Netzes aus strukturierten Informationen«21, das in verschiedenen Medien und Institutionen, keineswegs nur oder vor allem im menschlichen Denken und Erinnern implementiert wird. Glauben mag dann noch menschlich sein, Wissen ist es nicht.
(4.) Verzicht auf den Wissensbegriff: Schließlich kann man, wie Ansgar Beckermann, vorschlagen, »auf den Wissensbegriff ganz [zu] verzichten. Es gibt in der Erkenntnistheorie keine interessante Frage und keine interessante These, die wir nicht auch ohne diesen Begriff formulieren könnten. Was ist das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen? Wahrheit.«22 Und alles, was wir dazu sagen wollen, können wir mit dem Begriff des Glaubens (belief) aussagen.
Das Resultat dieser Entwicklung ist paradox. Auf der einen Seite scheint nur noch der Glaubensbegriff wichtig zu sein, auf der anderen nur noch der Wissensbegriff.
Erkenntnistheoretisch wird der Wissensbegriff verabschiedet: Er ist alltagssprachlich gebräuchlich, wissenschaftlich aber nicht zu gebrauchen, weil er sich nicht präzis bestimmen und sich alles Wichtige ohne ihn sagen lässt. ›Glauben ist menschlich‹, weil sich alles Wissen auf Glauben zurückführen lässt.
Kultur- und wissenschaftstheoretisch dagegen ist nur noch der Wissensbegriff, nicht mehr der Glaubensbegriff wichtig: Wissenssysteme sind Informationsspeicher in unserer Gesellschaft, die alles weit überschreiten, was einzelne Menschen wissen könnten. Menschliches Glauben als Streben nach Wissen bietet keinen brauchbaren Ansatzpunkt mehr, das zu erklären oder zu erfassen. Mit Glauben ist die Wahrscheinlichkeitsvermutung gemeint, mit der wir uns in bestimmten Situationen zu bestimmten Möglichkeiten verhalten. Und vor diesem Hintergrund heißt ›Glauben ist menschlich‹: Glauben als Wahrscheinlichkeitsvermutung ist eine Vor- und Schrumpfform des Wissens. In einer Wissensgesellschaft sollte man nicht das Glauben pflegen, sondern nach Wissen streben.
Mit dem Bezug auf den Glauben ist in diesem Wissensverständnis freilich auch der Bezug auf den Menschen entsorgt. Wissen wird systemtheoretisch expliziert, und Glauben spielt nur insofern noch eine Rolle, als es ebenfalls systemtheoretisch verstanden werden kann.
Angesichts dieser Entwicklung kann die These ›Glauben ist menschlich‹ als Protest dagegen gehört werden, dass versucht wird, Glauben auf eine wahrscheinlichkeitstheoretisch explizierbare Systemoperation zu reduzieren. Denn damit scheint nur noch das Sachverhaltsglauben, nicht mehr der Personglaube eine Rolle zu spielen. Oder noch schlimmer: Der Glaube an Personen wird nach Maßgabe eines Sachverhaltsglaubens verstanden, der im Modus objektiven Systemwissens, aber nicht im Modus menschlicher Lebenspraxis entwickelt wird. Wo Mensch war, ist nur noch System. Die Konzentration auf das Wissen hat nicht nur den Glauben, sondern den Menschen verdrängt. Damit aber ist der Horizont verloren gegangen, in dem nach Glauben und Wissen zu fragen überhaupt wichtig wurde. Und deshalb müssen wir uns zum Verstehen des Glaubens dem Verständnis des Menschen und Menschlichen zuwenden, also die beiden anderen genannten Leitunterscheidungen noch betrachten.
4. Die anthropologische Leitunterscheidung Glauben/Nichtglauben
Werden Menschen als Glaubende in den Blick gefasst – und das ist schon eine bestimmte Weise, sie in den Blick zu nehmen –, dann lässt sich ihr Glauben anthropologisch nicht nur in theoretischer Hinsicht als Führwahrhalten beschreiben (›Glauben ist menschlich‹, weil Menschen nur überleben können, wenn sie sich situationsgerecht verhalten), sondern auch in praktischer Hinsicht als Vertrauen und Sichverlassen auf andere.
In theoretischer Hinsicht wird das, was mit ›Glauben‹ gemeint wird, in der Regel im Gegensatz zum Wissen oder zum Handeln oder zu beidem bestimmt. So wird Glauben kognitiv als Anderes des Wissens verstanden – sei es im Sinn eines ausschließenden Gegensatzes (Glauben ist nicht Wissen, Wissen nicht Glauben: ›Wer etwas glaubt, weiss es nicht, und wer etwas weiss, braucht es nicht zu glauben‹), sei es im Sinn einer einschließenden Entgegensetzung (Glauben ist eine schwache Form des Wissens, Wissen eine starke Form des Glaubens: ›Wer glaubt, hält einen Sachverhalt für mehr oder weniger wahrscheinlich; wer weiß, hat Gründe, die Wahrscheinlichkeit des Bestehens oder Eintretens dieses Sachverhalts für sehr hoch zu halten‹). Oder Glauben wird pragmat(ist)isch (handlungsbezogen) dargestellt als subjektive Wahrscheinlichkeitshaltung, auf bestimmte Weise zu handeln bzw. etwas Bestimmtes zu tun oder nicht zu tun (›Was jemand glaubt, zeigt sich an dem, was er bereit ist zu tun‹). Oder Glauben wird emotionsbezogen als eine Weise des Erlebens und Selbsterlebens bestimmt (›Wer glaubt, erlebt, wie er lebt‹) bzw. fundamentalanthropologisch als existen- tielles Grundgefühl (›Glauben ist das präreflexive Grundvertrauen, ohne das man weder leben noch das Leben in Frage stellen kann‹).
In all diesen Fällen wird Glauben als eine Operation beschrieben, die kognitiv oder emotional etwas Vorgegebenes mental repräsentiert (›Für-wahr-halten‹) und so mehr oder weniger deutlich zu Bewusstsein bringt. ›Glauben ist menschlich‹, weil Menschen nur leben und überleben können, insofern sie Informationen aus ihren Umgebungen aufnehmen und mental so verarbeiten, dass sie sich situationsgerecht verhalten und mit Aussicht auf Erfolg handeln können. Wer – in diesem Sinn – nicht glaubt, lebt nicht nur nicht menschlich, sondern sehr schnell gar nicht mehr.
In praktischer Hinsicht dagegen ist Glauben eine Vertrauenshaltung anderen Personen gegenüber, die unter verschiedenen Bedingungen und in verschiedenen Situationen unterschiedlich verständlich oder vernünftig, falsch oder richtig sein kann. Zwar kann man in jedem Einzelfall darüber streiten, ob es angemessen oder unangemessen ist, einer bestimmten Person zu vertrauen oder sich auf sie zu verlassen. Aber weil Menschen keine solitären Raubtiere sind, die sich nur und ausschließlich auf sich selbst verlassen, sondern soziale Herdentiere, die nicht allein, sondern zusammen mit anderen leben, ist es ein unvorstellbarer Grenzfall, dass sie sich überhaupt nicht auf andere und anderes verlassen oder niemals und nirgends anderen vertrauen. In jedem konkreten Einzelfall mag das Vertrauen verfehlt und der Entschluss zum Vertrauen falsch sein, doch dass Menschen überhaupt vertrauen und sich zum Vertrauen entschliessen, gehört zu ihrem Menschsein: Glauben – in diesem Sinn – ist menschlich, weil Menschen Mitmenschen sind. Der Mensch ist zwar ein Tier, aber dieses Tier kann menschlich oder unmenschlich leben, und menschlich lebt es nur, weil und insofern es seine Mitmenschlichkeit lebt, also das Zusammen- leben mit anderen so gestaltet, dass man glauben, einander Vertrauen schenken, sich aufeinander verlassen kann.
Die These ›Glauben ist menschlich‹ ist also nicht nur auf dem Hintergrund der biologischen Unterscheidung Mensch/Tier zu verstehen, sondern auch (und vor allem) auf dem Hintergrund der anthropologischen Unterscheidung Mensch/Mensch. Glauben ist nichts, was Menschen in grundsätzlicher Weise von Tieren unterschiede (auch Kühe, Hunde und Vögel nehmen Veränderungen in ihrer Umwelt wahr und verlassen sich auf andere und aufeinander). Aber die Art und Weise, wie Menschen ihren Glauben leben, entscheidet mit darüber, ob sie ein menschliches oder ein unmenschliches, ein menschenwürdiges oder ein menschenunwürdiges Leben führen. Wo die Verhältnisse so sind, dass jedem misstraut werden muss und man sich auf niemanden verlassen kann, ist es ebenso schwer oder unmöglich, ein menschliches Leben zu führen, wie dort, wo die Grundmöglichkeiten zum Lebensunterhalt nicht gegeben sind.
Die eigentliche Provokation der These ›Glauben ist menschlich‹ steckt nicht darin, dass man nicht darum herum kommt, irgendetwas für wahr zu halten, solange man lebt, sondern dass man so lange nicht wirklich menschlich leben kann, als man sich nicht auf andere verlassen und ihnen vertrauen kann. Glauben als Modus biologischen Überlebens ist eines, Glauben als Modus menschlichen Zusammenlebens ein anderes und Glaube als Modus menschlichen Miteinanderlebens vor Gott ein drittes. Zur Debatte steht nicht die biologische Frage nach dem Menschen, sondern die anthropologische Frage nach der Menschlichkeit des Menschen, und diese wird theologisch so beantwortet, dass im Blick auf das Leben von Menschen vor Gott unterschieden wird zwischen denen, die sich daran orientieren (Glaube), oder das nicht tun (Unglaube).
5. Die theologische Leitunterscheidung Glaube/Unglaube
Theologisch wird das durch die Leitunterscheidung Glaube/Unglaube zum Ausdruck gebracht. Ich beschränke mich auf vier Bemerkungen.
(1.) Modales Glaubensverständnis: In den bisher besprochenen Versionen wird ›glauben‹ grammatikalisch entweder als Substantiv verstanden (der Glaube, das Glauben) oder als Verb (glauben = cum assensione cogitare). Als Substantiv wird Glauben von Wissen und Tun unterschieden, als Verb vom wissen und meinen. Hier dagegen wird ›glauben‹ weder substantivisch noch verbal, sondern modal, adverbial oder (in metaphorischem Sinn) lokal konstruiert – also nicht als ›Peter glaubt‹, sondern als ›Peter lebt glaubend‹ bzw. ›auf glaubende Weise‹ oder ›im Glauben‹.
Nun kann man im Blick auf jeden lebenden Menschen unterscheiden zwischen dem, dass er ist (Existenz), was er ist (Bestimmung) und wie er das ist, was er ist und dass er ist (Modus). Spätestens seit Kant ist klar, dass die Beantwortung der Frage nach der Existenz von etwas oder jemand (dass etwas bzw. jemand ist) keinen Beitrag zur Beantwortung der Bestimmungsfrage leistet, was es bzw. er oder sie ist. Der Feststellung ›Peter ist ein Maurer, Vater von drei Kindern, arbeitslos und SPD-Wähler‹ fügt die Präzisierung ›und er existiert‹ keine weitere Bestimmung hinzu, vielmehr sagt sie, dass es den so bestimmten Peter tatsächlich gibt.
Weder mit der Was-Frage noch mit der Existenzfrage wird freilich beantwortet, wie Peter lebt – zuversichtlich oder enttäuscht, vernünftig oder unvernünftig, vertrauensvoll oder ohne Vertrauen. Die Modusfrage fällt weder mit der Bestimmungsfrage noch mit der Existenzfrage zusammen, sondern erfordert eigenständige Antworten.
Auch die Modusfrage kann allerdings in zwei Hinsichten gestellt werden, nämlich im Blick auf das Was und das Dass eines menschlichen Lebens: Wie leben Menschen ihr Leben? (Wie des Was-Seins). Wie existieren Menschen, indem sie ihr Leben vollziehen? (Wie ihres Da-Seins). Die erste Frage zielt auf die Art und Weise ihres Lebensvollzugs und damit, normativ gewendet, auf die moralische Frage nach dem guten Leben (im Unterschied zum schlechten Leben): Wie soll ein Mensch leben, um wirklich menschlich zu leben? Die zweite Frage zielt auf die Art und Weise ihres Daseins- oder Existenzvollzugs und damit auf die existenzielle Frage nach dem rechten Leben (im Unterschied zum falschen Leben).
Beide Fragen setzen voraus, dass man so oder anders leben (sein) bzw. so oder anders existieren (dasein) kann. Wie die ethische Reflexion die Frage nach dem guten Leben zum Thema hat (Wie sollen wir leben – als Menschen unter Menschen, als Menschen unter anderen Lebewesen?), so hat die theologische Reflexion die Frage nach dem rechten Leben zum Thema (Wie können wir existieren – vor Gott, mit Gott, durch Gott?)
Die theologische Antwort lautet: Menschen existieren vor Gott entweder in der Weise des Unglaubens oder in der Weise des Glaubens. Beides sind mögliche Existenzmodi eines jeden Menschen, und es sind die beiden einzigen, die es im Blick auf Gottes Gegenwart gibt. Im Blick auf Gott gibt es keine neutrale Position.
Die theologische Leitunterscheidung beantwortet die Frage nach dem Wie menschlichen Lebens also nicht im Blick darauf, wie ein Mensch das lebt, was er ist (Frage nach dem Lebensmodus), sondern im Blick darauf, wie er seine Existenz vor Gott vollzieht, indem er lebt (Frage nach dem Existenzmodus). Die Frage ›Wie lebt Peter?‹ und die Antwort: ›vernünftig oder unvernünftig, vertrauensvoll oder hoffnungslos, religiös oder nicht religiös‹ ist eines, die Frage ›Wie existiert Peter vor Gott?‹ und die Antwort: ›glaubend oder nicht glaubend‹, ein anderes. Wie es kein Beitrag zur Bestimmung dessen ist, wer und was Peter ist, wenn man sagt, dass er existiert, so ist es kein Beitrag zur Bestimmung dessen, wer und was er ist, wenn man sagt, dass er glaubt (oder nicht glaubt). Damit gibt man vielmehr Auskunft darüber, wie er existiert, und zwar genauer: wie er vor Gott existiert, wie sein Leben also zu beurteilen ist, wenn man es daraufhin betrachtet, dass und wie es angesichts der Gegenwart Gottes vollzogen wird.
Das ist keine sich wie von selbst aufdrängende Betrachtungsweise. Die Wie-Frage kann vielmehr auf verschiedenen Ebenen beantwortet werden, indem man in fortlaufender Konkretion das Wie menschlichen Seins biologisch als Menschsein (menschlich/nichtmenschlich), das Wie des Menschseins ethisch als Menschlichkeit (menschlich/unmenschlich) und das Wie der Menschlichkeit theologisch als Gottes- und Nächstenliebe (menschlich/göttlich) bestimmt, die im Glauben gelebt und im Unglauben nicht gelebt wird.
(2.) Religiöses vs. theologisches Glaubensverständnis: Die theologische Leitunter- scheidung beschreibt keine religiösen Lebensphänomene, sondern markiert eine praktische Orientierungsunterscheidung. Sie taugt nicht zum Sortieren von Phänomenen oder zur Klassifizierung von Menschen, sondern orientiert sich an der Grundalternative menschlicher Einstellung zur Gegenwart Gottes. Aber so wenig diese phänomenal beschrieben werden kann, so wenig können es die Existenzmodi des Glaubens und des Unglaubens. Als theologische Orientierungsunterscheidung sind sie ebenso wenig unabhängig von denen gegeben, die ihr Leben an Gottes Gegenwart ausrichten, wie es die Unterscheidung von Links und Rechts unabhängig von denen gibt, die sich so im Raum orientieren.
Das aber heißt: Religiöse Beschreibungsrede und theologische Urteilsrede vom Glauben sind zu unterscheiden.
Religiös-lebenspraktisch wird ›glauben‹ als ein Modus menschlichen Lebens- vollzugs betrachtet und verstanden als Vertrauen und Sichverlassen auf Gott bzw. auf das, was man dafür hält, ob man es ›Gott‹ nennt oder nicht. Wer glaubt, setzt sein Vertrauen in seinen ›Gott‹, d. h. in das, von dem man sich Hilfe erhofft in allen Nöten. Dieses lebenspraktische Verhalten kann in allen Abstufungen gewisser, skeptischer, fragender, zweifelnder Überzeugung und in allen Mischformen des Glaubens und Aberglaubens auftreten: Wer glaubt, setzt sein Vertrauen in ›seinen Gott‹ (ob er ihn so nennt oder nicht), aber was ›Gott‹ meint und ob mit ›Gott‹ überhaupt etwas, der rechte Gott oder ein Idol (Abgott) getroffen wird, das kann phänomenal nicht geklärt und über alle Zweifel erhaben gemacht werden. Glaube und Aberglaube lassen sich nicht deskriptiv anhand anthropologischer oder religiöser Phänomene unterscheiden, sondern nur in der Orientierung an Gott. Gottes Gegenwart aber ist kein Lebensphänomen, sondern das, was die Gesamtheit der Lebensphänomene als Feld seines Wirkens und damit als seine Schöpfung qualifiziert. Sie ist der Operator, der die Welt zur Schöpfung macht, also vor der Klammer steht, die alle weltlichen Phänomene einschließt, und gerade deshalb selbst nicht innerhalb der Schöpfungswelt phänomenal in Erscheinung tritt. Deshalb ist es nicht natürlich, auf Gottes Gegenwart zu achten (d. h. im Glauben zu leben), sondern im Gegenteil natürlich, sie nicht zu beachten (d. h. im Unglauben zu leben).
Theologisch-reflektiert wird ›glauben‹ dementsprechend als Modus menschlicher Existenz vor Gott verstanden und als Überwindung oder Negation des Unglaubens bestimmt (›Wer glaubt, hat einen lebensverändernden Wechsel vom Unglauben zum Glauben vollzogen.‹), von einer Sicht und Praxis des Lebens, die nur Weltliches kennt, zu einer Sicht der Welt als Schöpfung. In diesem Sinn gibt es Glauben nur als Abwendung vom Unglauben – ob ›Unglauben‹ das faktische Ignorieren der Gegenwart Gottes meint, oder den Aberglauben an ein fälschlicherweise für Gott gehaltenes Idol, oder die aktive Bestreitung des Gottesglaubens als Irrtum, Phantasma oder bösartige Irreführung von Menschen. So oder so sind Glaubende keine anderen Menschen als Nichtglaubende, sondern leben auf andere Weise, insofern sie ihr Leben in Dank und Bitte, Lobpreis und Klage vor Gott vollziehen.
Weder die Charakterisierung des religiösen Glaubens (Gottvertrauen) noch das theologische Glaubensverständnis (Überwindung des Unglaubens) sind als Beitrag zur Bestimmung des Menschseins des Menschen im Unterschied zum Tier zu verstehen. Wenn sie so verstanden werden, dann werden sie missverstanden. Die Frage, auf die sie antworten, ist nicht: ›Was ist der Mensch im Unterschied zum Tier?‹, sondern die andere und für unsere Lebenspraxis meist wichtigere Frage: ›Was heißt es, menschlich und nicht unmenschlich mit anderen zusammen zu leben?‹. Diese Frage lässt sich nicht im biologischen Horizont des Lebens, sondern nur im anthropologischen Horizont des mensch- lichen Zusammenlebens mit anderen beantworten, und seitens der Theologie geschieht das durch Ausarbeitung der Antwort, die der christliche Glaube im Horizont der Beziehungen von Gott und Mensch darauf gibt. Glaube und Unglaube werden dabei als mögliche Existenzmodi eines jeden Menschen verstanden, und zwar als die einzigen, die es im Blick auf Gottes Gegenwart gibt: Wer lebt, glaubt oder glaubt nicht (d. h. lebt glaubend oder nicht). Gerade deshalb sind sie keine Optionen, zwischen denen man neutral wählen könnte. Wer glaubt, hat vielmehr stets den Unglauben im Rücken, kann also gar nicht als glaubend verstanden werden, ohne dies negativ als Abwendung von einem nicht glaubenden und positiv als Hinwendung zu einem glaubenden Leben in der Gegenwart Gottes zu verstehen. Der Unglaube ist so der universale Modus des alten Lebens (der für alle Menschen gilt), der Glaube dagegen der universale Modus des neuen Lebens (der für jeden Menschen gelten kann).
(3.) Existenzielle Unterbrechung und Neuausrichtung des Lebens: Allerdings wechselt niemand von sich aus vom Unglauben zum Glauben – nur im Glauben kann man sich für oder gegen den Unglauben entscheiden, für den Glauben dagegen entscheidet man sich nie, weil es im Unglauben nicht möglich und im Glauben nicht nötig ist. Zum Leben im Glauben gehört deshalb das Bekenntnis, nicht durch eigene Vernunft und Kraft, sondern durch Gott selbst zum Glauben gekommen und zum Wechsel des Existenzmodus veranlasst worden zu sein.
Das mag langsam und allmählich oder plötzlich und überraschend geschehen sein. So oder so aber markiert die theologische Leitunterscheidung einen fundamentalen Wechsel des Modus menschlicher Existenz vor Gott, der sich negativ als existenzielle Unterbrechung des bisherigen Lebens (Dislozierung und Desorientierung) und positiv als dessen Neuausrichtung im Licht dieser Unterbrechung auf Gott hin chiffrieren lässt (Reorientierung). Diese Neuausrichtung fügt dem bisherigen Leben keinen bloß zusätzlichen, bislang übersehenen Aspekt hinzu. Gott ist kein Etwas unter anderen, nicht einmal ein ens necessarium et realissimum, ein ganz und gar notwendiges und voll bestimmtes Etwas, sondern mit Gott geht es um alles, und zwar auf neue und andere Weise: Wo man sich lebensorientierend auf Gott bezieht, versteht man nicht nur Gott anders (als seinen Schöpfer), sondern auch sich selbst (als Geschöpf) und seine Welt (als Gottes Schöpfung). Solche Menschen leben in einer anderen Sinnwelt mit eigener Semantik – nicht mehr nur in der Welt, sondern in der Schöpfung, nicht mehr nur als Menschen, sondern als Geschöpfe, nicht mehr nur als Mitglied oder Nichtmitglied einer Religionsgemeinschaft, sondern als Glaubende oder Nichtglaubende.
(4.) Neue Ausrichtung des Lebens an Gottes Gegenwart: In dieser Sinnwelt wird auch die ethische Frage nach dem Sinn von Mitmenschlichkeit durch die Praxis der Gottes- und Nächstenliebe auf neue Weise beantwortet. ›Glauben ist menschlich‹ heißt jetzt, dass Glaubende anders leben, insofern sie nicht nur Mitmenschen, sondern Nächste kennen – Menschen also, denen Gott eben so nahe kommt wie ihnen selbst, deren Würde daher nicht in dem besteht, was sie ihnen zusprechen, sondern was Gott in ihnen sieht. Darüber aber haben Menschen keine Verfügungsmöglichkeit und deshalb ist die Würde der Menschen nichts, worüber Menschen verfügen könnten.
Das heißt nicht, dass es ein moralisch gutes Leben allein im Glauben gäbe. Im Gegenteil: Ein moralisch gutes Leben kann man im Glauben und im Unglauben führen, ein vor Gott rechtes Leben aber gibt es nur im Glauben. Glaube und Unglaube sind keine Modi des moralischen Lebensvollzugs (Differenz gutes/schlechtes Leben), sondern Modi des existenziellen Daseinsvollzugs vor Gott (Differenz rechtes/falsches Leben). Wer vor Gott ein falsches Leben führt, ist nicht deshalb auch schon ein moralisch schlechter Mensch, und moralisches Versagen gibt es nicht nur bei denen, die sich nicht an Gottes Gegenwart orientieren.
Umgekehrt ist aber auch ein moralisch gutes Leben etwas anderes als ein rechtes Leben im Glauben: Man kann mehr oder weniger moralisch leben, aber keine Steigerung des moralischen Lebens wird vom Unglauben in den Glauben, vom falschen in das rechte Leben vor Gott führen. Zwischen Unglaube und Glaube besteht eine existenzielle Kluft, die vom Unglauben aus nicht überwunden werden kann und erst retrospektiv vom Glauben aus überhaupt wahrgenommen wird. Zum Leben im Glauben gehört daher das Bekenntnis, dass man den Wechsel nicht sich selbst, sondern allein Gott verdankt – und die Metaphern vom neuen Leben, von Geburt und Wiedergeburt, von Tod und Auferweckung, von der Gabe des Lebens und des Glaubens unterstreichen das.
6. Schluss
Das theologische Glaubensverständnis lässt sich nicht auf eines der anderen reduzieren oder mit deren Hilfe zureichend entfalten. Es ist ein Glaubensverständnis sui generis, das weder im Horizont der erkenntnistheoretischen Differenz Glauben/Wissen noch der anthropologischen Differenz Glauben/Nichtglauben richtig verstanden werden kann, also weder als Fürwahrhalten von Sachverhalten noch als Vertrauen oder Sichverlassen auf eine Person zureichend begriffen wird. All das gibt es im Leben des Glaubens nicht weniger als im Leben des Unglaubens. Die Differenz zwischen Glaube/Unglaube aber ist keine Unterscheidung bestimmter Lebensvollzüge, sondern eine Unterscheidung des Existenzmodus, in dem ein Leben vor Gott gelebt wird, und der daher alles betrifft und qualifiziert, was man ist, tut und erlebt: Menschen leben (im Blick auf Gott) entweder glaubend oder nicht glaubend. Tertium non datur.
Deshalb ist beides menschlich: zu glauben, weil es Menschen gibt, die glaubend leben; und nicht zu glauben, weil niemand von sich aus glaubend lebt.
Daraus folgt nur (doch das genügt): Es ist möglich, dass Menschen glauben. Aber diese Möglichkeit ist keine Fähigkeit, sie hängt nicht daran, ob man religiös, musikalisch oder unmusikalisch ist, sondern sie ergibt sich da, wo einem aufgeht, dass man von einem Geheimnis her existiert, das der Glaube nicht schafft und der Unglaube nicht aufhebt, sondern das die immer schon in Anspruch genommene Vorgabe für beides ist: für ein Leben im Glauben und für ein Leben im Unglauben. Dass alle Menschen glauben können, heißt ja nicht, dass alle Menschen glauben müssen oder glauben werden. Es heißt aber sehr wohl, dass man ohne Gott noch nicht einmal nicht an Gott glauben könnte. Das mögen nicht alle gern hören. Aber so ist es eben.
- 1Einführungsvortrag im Rahmen des Akademie-Forums »Glauben ist menschlich« am 30.9.2011 in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig.
- 2Artikel »Wissen«, Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Wissen#Formen_des_Wissens (10.10.2011).
- 3Vgl. Ingolf U. Dalferth, Malum. Theologische Hermeneutik des Bösen, Tübingen 2008/2010, S. 308–329.
- 4Vgl. Ingolf U. Dalferth, »In God We Trust: Trust, Mistrust and Distrust as Modes of Orientation«, in Arne Grøn und Claudia Welz, Trust, Sociality, Selfhood, Tübingen 2010, S. 135–152.
- 5Die Philosophen sind daher bloß ein besonderer Fall dessen, was wir alle tun. Auch sie sind keine Wissenden (σοϕοί), sondern Liebhaber des Wissens (ϕιλόσοϕοι), streben also nach dem, was wir alle gerne hätten, aber nicht haben, nur eben als Liebhaber: Sie tun gern, was wir alle nur irgendwie tun.
- 6Aristoteles, Metaphysik, 1030a 6–7.
- 7Joseph Simon, »Horizonte der Wahrheit bei Kant«, in Ingolf U. Dalferth und Philipp Stoellger (Hg.), Wahrheit in Perspektiven. Probleme einer offenen Konstellation, Tübingen 2004, S. 119–140, hier S. 119.
- 8Vgl. Bernard Lonergan, Insight: A Study in Human Understanding, New York /London 1958, S. xxviii (im Original kursiv): »Thoroughly understand what it is to understand, and not only will you understand the broad lines of all there is to be understood but you will also possess a fixed base, an invariant pattern, opening upon all further developments of understanding.«
- 9Vgl. Dalferth, Malum (Fn. 3), S. 309 f.
- 10Kurt Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980, S. 314–326.
- 11Thomas von Aquin, Summa Theologica (STh.), IIa IIae q.1 a.1 und a.2.
- 12STh. IIa IIae q.1 a.2.
- 13STh. IIa IIae q.1 a.4.
- 14STh. I q.1 a.5. »impossibile est quod ab eodem idem sit scitum et creditum. Potest tamen contingere ut id quod est visum vel scitum ab uno, sit creditum ab alio«.
- 15Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 851/A 823.
- 16Wolfgang Lenzen, Glauben, Wissen und Wahrscheinlichkeit, Wien 1980.
- 17Richard Swinburne, Faith and Reason, Oxford 1981.
- 18Vgl. Edmund Gettier, »Is Justified True Belief Knowledge?«, inAnalysis 23 (1963) S. 121–123.
- 19Vgl. Art. »Wissen« (Fn. 2).
- 20Niels Gottschalk-Mazouz, »Was ist Wissen? Überlegungen zu einem Komplexbegriff an der Schnittstelle von Philosophie und Sozialwissenschaften«, in Sabine Ammon u. a. (Hg.), Wissen in Bewegung. Dominanz, Synergien und Emanzipation in den Praxen der ›Wissensgesellschaft‹, Weilerswist 2007, S. 21–24.
- 21Robert Solso, Kognitive Psychologie, Heidelberg 2005, S. 242. Vgl. Gabi Reinmann-Rothmeier und Heinz Mandl, Art. »Wissen«, in Lexikon der Neurowissenschaften, Band 3, Heidelberg 2001, S. 466.
- 22Ansgar Beckermann, »Zur Inkohärenz und Irrelevanz des Wissensbegriffs. Plädoyer für eine neue Agenda in der Erkenntnistheorie«, inZeitschrift für Philosophische Forschung 55 (2001), S. 571–593.