Ernst Christoph von Manteuffel und die Leipziger »Wahrheitsliebenden« um Johann Christoph Gottsched
Die Aufklärung als historisches Phänomen wird seit jeher eng mit dem Bürgertum des 18. Jahrhunderts in Verbindung gebracht. »Aufklärung und Bürgerlichkeit« lautet daher auch der Titel eines Buches, das vor gut zwei Jahrzehnten erstmals den Versuch unternommen hat, Leipzig als ein Zentrum der Aufklärung in einem umfassenden Sinne zur Darstellung zu bringen.1 Niemand wird die Berechtigung der Verknüpfung dieser beiden Begriffe bezweifeln können und wollen, zumal Leipzig als eine der bedeutendsten Handelsstädte der Zeit wie nur wenige andere Orte von einem wohlhabenden und selbstbewussten Bürgertum dominiert wurde. Dennoch bedarf dieses Bild einer Korrektur. Leipzig war auch ein Ort, in dem der Adel in mancherlei Weise Präsenz zeigte.2 An den Messetagen weilte hier der Hof oder zumindest eine Vielzahl seiner Angehörigen, hier wurden höfische Feste gefeiert, hier trafen sich Adelsfamilien aus nah und fern, viele junge Adlige studierten an der Leipziger Alma mater. Vor allem besaßen in der näheren und ferneren Umgebung der Stadt zahlreiche Adelsfamilien Güter und Schlösser.3 Der Anteil dieser Familien am kulturellen und wissenschaftlichen Leben bildet geradezu eine Terra incognita der Forschung.4 Nach Überzeugung des Autors dieses Beitrags war er durchaus erheblich. Mit den Namen Seckendorff (Meuselwitz), Löser (Wasserschloß Reinharz), Vitzthum von Eckstädt (Schönwölkau), Werthern (Eythra), Friesen (Rötha) und Apel (Ermlitz) wird mit nur einigen wenigen Beispielen die ungemeine Bedeutung des Adels für die Geschichte des Leipziger Raumes angedeutet.
Die eben genannten Familien haben über viele Jahrzehnte, zum Teil über Jahrhunderte hinweg auf ihren Stammgütern gelebt und gewirkt. Nur wenige, nämlich acht, Jahre währte dagegen der Leipziger Aufenthalt des Reichsgrafen Ernst Christoph von Manteuffel.5 Gleichwohl besitzt diese relativ kurze Zeit für das Thema Adel in Leipzig größere Bedeutung, denn Manteuffel und sein Haus bildeten in diesen Jahren gleichsam einen kultur- und wissenschaftspolitischen Mittelpunkt der Stadt. Bevor wir uns diesem Wirken näher zuwenden, sei noch ein Blick auf die dem Leipziger Aufenthalt vorangegangene Biographie des Grafen gestattet.
Die Familie Manteuffel war in Pommern beheimatet; vor allem dem preußischen Staate hat sie über die Jahrhunderte hinweg immer wieder mehr oder minder bedeutende Politiker, Diplomaten und Offiziere gestellt. Auch Ernst Christoph von Manteuffel hatte preußische Dienste übernommen, wechselte dann aber an den Dresdner Hof, wo er über mehrere Jahrzehnte hinweg verschiedene Funktionen ausübte, zuletzt immerhin die eines Kabinettsministers. Nicht ganz freiwillig hatte er dieses Amt 1730 aufgegeben, um sich in seine pommersche Heimat zurückzuziehen. Der Graf zählte zu den schon erwähnten adligen Studenten der Leipziger Universität (Studium 1693 bis 1697) und auch nach Ablauf seiner Studienzeit blieb er literarisch und wissenschaftlich immer lebhaft interessiert, war er sozusagen ein »homme de lettres«. In den Jahren der erzwungenen Muße nach Quittierung seiner sächsischen Dienste konnte Manteuffel sich umso intensiver seinen literarischen und wissenschaftlichen Neigungen widmen, z. B. der Übersetzung antiker Dichtungen ins Französische, denn nach dem Vorbild vieler seiner Standesgenossen bevorzugte der Graf die von ihm ausgezeichnet beherrschte französische Sprache. Seine Briefe z. B. verfasste er allesamt in Französisch und es galt als Privileg, wenn seine Korrespondenzpartner in ihren Antworten sich des Deutschen bedienen durften.
Was die Bedeutung Manteuffels über den Tag und die Stunde hinaus wirklich ausmacht, sind nicht seine dilettantischen literarischen Versuche oder seine – wenn auch anerkennenswerte – materielle und ideelle Förderung der Kunst, Kultur und Wissenschaft, sondern das ist sein Platz innerhalb der Philosophiegeschichte. Dabei existieren keine nennenswerten philosophischen Publikationen des Grafen und man weiß auch nichts von bemerkenswerten Ideen oder Anregungen, die er, in welcher Weise auch immer, der Welt vermittelt habe. Auch auf dem Gebiet der Philosophie ist er nichts anderes gewesen als ein Mäzen, d. h. ein Anreger, ein Förderer, ein Beschützer und eben ein Dilettant. Diese Tätigkeiten dürfen und sollten in ihrer Bedeutung jedoch nicht unterschätzt werden. Sie gehören zur Philosophiegeschichte hinzu, die eben nicht nur in der Entwicklung von Ideensystemen und deren Rezeption besteht, sondern in einem engen und vielfältigen Kontext zur jeweiligen kulturellen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und eben auch politischen Umwelt steht. Graf Manteuffel ist insofern kein Einzelfall. Leider setzt sich diese Erkenntnis nicht ohne Weiteres durch. Die reine Ideengeschichte und die Konzentration auf die »großen Denker« befinden sich als Forschungsorientierungen zwar auf dem Rückzug, besitzen aber trotzdem noch feste Bastionen.
Für einige Jahre verbindet sich Manteuffels Name mit dem Namen Christian Wolffs, der als einer der einflussreichsten Aufklärungsphilosophen in die Geschichte eingegangen ist. Bei der Erwähnung Wolffs erscheint sogleich sozusagen vor dem inneren Auge noch eine andere, noch berühmtere Persönlichkeit – die des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz. Das muss kurz begründet werden. Der aus Leipzig stammende Leibniz gilt heute ohne Zweifel als der genialste deutsche Gelehrte der Frühen Neuzeit. Berühmt war er freilich schon zu Lebzeiten, auch nach seinem Tode (1716) riss das Andenken an ihn niemals ab. Es war jedoch ein Ruhm, der weniger eine Reihe wichtiger Veröffentlichungen als Ergebnis lebenslanger Forschung zum Hintergrund hatte, sondern sich eher auf den großen Ruf stützte, den Leibniz durch sein ganz Europa überziehendes Netzwerk an Korrespondenzen gewonnen hatte. Jedermann kannte ihn und jede der damals bekannten wissenschaftlichen Disziplinen konnte ihn als einen ihrer Vertreter betrachten. Das hinterlassene unveröffentlichte schriftliche Werk in wahrhaft gewaltigen Dimensionen lag damals in Hannover noch im Verborgenen. Es ist bis zum heutigen Tage nur teilweise erschlossen worden. Zu den Gebieten des Leibniz’schen Schaffens, die am frühsten Beachtung fanden, gehörte zweifellos die Philosophie. Hier lag mit der »Theodizee« eine der wenigen zu Lebzeiten von Leibniz erschienenen gewichtigeren Publikationen vor, die auch relativ rasch Verbreitung fand. Freilich, ein Philosophielehrbuch im herkömmlichen Sinne bildete dieses Buch nicht; in mancherlei Hinsicht trug es eher den Charakter einer großen Dichtung. Man kann durchaus bezweifeln, ob die Gedankenwelt Leibniz’ ihre spätere europaweite Rezeption und Wirkung hätte entfalten können, wenn nicht ein anderer Gelehrter gekommen wäre, nämlich Christian Wolff, der jenes Gedankenkonglomerat in ein philosophisches, strikten Regeln unterworfenes System umgegossen hätte. Dass bei diesem Prozess Interpretationen, Weiterentwicklungen und Reduktionen der Leibniz’schen Ideen stattfanden, nimmt nicht wunder und Wolff selbst hat immer darauf beharrt, ein Selbstdenker, d. h. mehr als ein »Popularisator« der Ideen eines anderen, zu sein. Das ist an dieser Stelle nicht weiter zu untersuchen. Genug, dass die neue Philosophie unter der Bezeichnung des Leibniz-Wolffschen Systems um 1720 ans Licht trat und alsbald begann, zuerst die deutschsprachigen Universitäten und sonstigen Lehreinrichtungen zu erobern. Was wir heute als Philosophie der Aufklärung bezeichnen, war auf lange Zeit nichts anderes als jenes mit den Namen Leibniz und Wolff verbundene System. Sein erstes Zentrum fand es – wen sollte das überraschen – in der Universität Halle, also in einer von Traditionen wenig belasteten, weil erst vor rund zwei Jahrzehnten (1694) erfolgten Neugründung, an der Wolff selbst als Lehrer tätig war. Bekanntlich ereilte Wolff und damit die neue Philosophie schon nach wenigen Jahren die Katastrophe, als König Friedrich Wilhelm dem Universitätsprofessor unter Androhung der Strafe des Stranges gebot, innerhalb weniger Stunden Halle und die preußischen Lande zu verlassen. Das bedeutete jedoch nicht das Ende der Leibniz-Wolffschen Philosophie, die vielmehr an anderen Orten in wachsendem Maße Interesse und Aufnahme fand. Zu diesen neuen Mittelpunkten gehörte auch das nahe gelegene Leipzig, wo man sogar einen etwas glücklos vorgetragenen Versuch unternahm, den vertriebenen Philosophen in den eigenen Mauern aufzunehmen. Zumindest fand das neue Denken Eingang in den Unterricht einiger jüngerer Dozenten, unter denen Johann Christoph Gottsched als Verfasser der »Ersten Gründe der gesamten Weltweisheit« am bekanntesten werden sollte.6 Andere Wolffianer waren u. a. die Professoren Christian Gottlieb Jöcher, Johann Friedrich May, Georg Friedrich Richter und Carl Günther Ludovici. Einfach und gefahrlos war das Propagieren von Lehren nicht, die unter dem Verdacht standen, wenigstens insgeheim atheistisches Gedankengut zu vertreten. Insbesondere die Theologen, ob nun orthodoxer oder pietistischer Provenienz, witterten hier die größten Gefahren, nicht zuletzt für die studentische Jugend. Dementsprechend heftig war ihr Widerstand, der in der Anstrengung disziplinarrechtlicher Verfahren gegen die Vertreter der »bößen Philosophie« gipfelte.7
In dieser angespannten Situation bot die Entwicklung in der nicht weit entfernten preußischen Residenzstadt Berlin eine gewisse Entlastung. Dort hatten im Laufe der dreißiger Jahre die Wolffianer ihre Positionen deutlich verbessern können. Der zuvor ganz und gar von Wolffs Gefährlichkeit überzeugte König wandelte allmählich seine Einstellung und vermochte nun, durchaus Vorzüge an der Wolffschen Philosophie zu entdecken. Joachim Lange, das Oberhaupt der Hallenser Pietisten und als solcher der entschiedenste Gegner Wolffs, versuchte zwar durch persönliche Einflussnahme am Berliner Hof, die Situation in seinem Sinne zu retten, aber vergeblich. Inzwischen hatte sich in Berlin eine starke Fraktion formiert, die von der Vereinbarkeit von Christentum und neuer Philosophie überzeugt war und eine solche Verbindung gar als notwendig betrachtete. Im Mittelpunkt dieses Kreises stand kein anderer als der in Pommern sitzende Graf Manteuffel. Dass das System Wolffs die einzig wahre Philosophie sei, war ihm eine feste Überzeugung und er gedachte sich in den Dienst der Sicherung und Verbreitung dieses Denkens zu stellen. Seine Verbindungen waren weitläufig und reichten bis in die höchsten Kreise. Sie erreichten sogar den Kronprinzen Friedrich, der angesichts der ausgeprägten Kränklichkeit seines Vaters nicht weit vom Zeitpunkt seiner Thronbesteigung entfernt zu sein schien. Ihn galt es, als »Roi-Philosophe« für das eigene Programm einer vernunftgeleiteten Herrschaftsordnung zu gewinnen.8 Vor diesem Hintergrund – Verteidigung Wolffs und Propaganda der neuen Philosophie – ist die Gründung des Kreises der Alethophilen (Wahrheitsfreunde) zu sehen, die 1736 in Berlin erfolgte.9
Die Wahrheit bedeutet ihnen schlichtweg nichts anderes als das Ideensystem Wolffs. Manteuffel ist unter dem Gesellschaftsnamen »Mäzen« ihr Führer. Andere prominente Mitglieder sind der Probst Johann Gustav Reinbeck (»Primipilaire«) und der Verleger Ambrosius Haudé (»Doryphore«). Zu diesem Kreis nun gelangen die bedrängten Leipziger Wolffianer in Kontakt. Der Einfluss des mächtigen Reichsgrafen reicht weit über die preußischen Grenzen hinaus, gerade auch nach Sachsen, wo Manteuffel so lange eine wichtige Rolle gespielt hatte. Bei ihm konnte man daher berechtigt einen Rückhalt wider die Umtriebe der Antiwolffianer in Leipzig und Dresden erhoffen. Die Leipziger »Wahrheitsfreunde« formieren sich jetzt zu einer Filiale der Berliner Gesellschaft der Alethophilen. Im Sommer 1738 setzt zwischen Gottsched und Manteuffel eine Korrespondenz ein, die innerhalb der nächsten drei Jahre enorme Dimensionen entwickelt, zumal alsbald auch Frau Gottsched als Dritte im Bunde hinzutritt. Insgesamt rund 260 Briefe gehen zwischen Berlin und Leipzig hin und her,10 mitunter mehrere Briefe innerhalb einer Woche, oft sind es sehr umfangreiche Schreiben. Geht es anfangs noch vorrangig um die Verteidigung der Wolffianer gegen ihre theologischen Widersacher, so gewinnt alsbald das Bestreben immer stärkeren Raum, zum Gegenangriff überzugehen. Sowohl in Berlin als auch in Leipzig entstehen Schriften zugunsten der »guten Sache«, wobei die Berliner Alethophilen immer eine gewisse Oberaufsicht über das Vorgehen der Leipziger Filiale auszuüben versuchen. In Leipzig geht es zuerst um scharfe antitheologische Satiren, deren Abfassung der spitzen Feder der Frau Gottsched anvertraut wird. Bald aber tritt die Niederschrift einer vom preußischen König eingemahnten umfangreichen Predigtlehre für den Gebrauch bei der Ausbildung der Geistlichen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Da Gottsched vor allem wegen seiner Kritik an den unphilosophischen (und daher »unvernünftigen«) Predigten der Leipziger orthodoxen Theologen zur Verantwortung gezogen worden war, muss es ihm Genugtuung bedeuten, jetzt im Auftrage des preußischen Königs eine Homiletik zu verfassen, die genau der Verbindung zwischen Theologie und der Wolffschen Philosophie das Wort redet.11 Freilich schwebt der Leipziger Professor immer wieder in großen Ängsten, dass man trotz der Anonymität des Werkes doch ihn, Gottsched, letztendlich als Autor entdecken werde. Da ihm in Sachsen bei einer erneuten Beschäftigung mit Fragen der Homiletik der Verlust der Professur und damit die Vernichtung seiner materiellen Existenz angedroht worden war, hätte eine solche Entdeckung die übelsten Folgen nach sich ziehen können. Immer wieder müssen ihn daher die Berliner Alethophilen, in erster Linie Manteuffel, bestärken und ermutigen, mit seiner Schrift fortzufahren. Schließlich erblickt dann das Buch das Licht der Welt.
Zu diesem Zeitpunkt findet der schon seit Jahren erwartete Thronwechsel in Berlin statt (30. Mai 1740) und für einen Moment glauben die Alethophilen in Berlin und Leipzig, jetzt sei ihre Stunde, d. h. die Stunde des »Roi-Philosophe« Friedrich gekommen. Innerhalb weniger Monate allerdings zerstiebt diese Hoffnung. Der junge König holt zwar Wolff nach Halle zurück, aber selbst hat er sich inzwischen in philosophischer Hinsicht doch ganz anders orientiert. Voltaire und nicht Wolff ist jetzt seine Leitfigur und dementsprechend gewinnen andere, auf Westeuropa orientierte Richtungen die Oberhand im Ringen um die Aufmerksamkeit des Monarchen. Darüber hinaus holt nun den Grafen Manteuffel seine komplizierte Vergangenheit ein. Seine seit vielen Jahren betriebene Tätigkeit als gleichzeitiger Agent mehrerer nicht unbedingt miteinander befreundeter Höfe wird bekannt und das kann nur den Unwillen Friedrichs II. hervorrufen. Mehr oder minder fluchtartig muss Manteuffel jetzt seine preußischen Wirkungsstätten verlassen. Er geht nach Leipzig, wo ihn nicht nur die dortigen Alethophilen sehnsüchtig erwarten, sondern wo er durch ein großes Landgut seiner Frau einen sicheren Anlaufpunkt besitzt. Die letzten acht Jahre seines Lebens wird er nun in Lauer, jenem Gut seiner Frau, und im Haus »Kronprinz« am Roßplatz in Leipzig verbringen.
Mit Manteuffels Ortswechsel verlagert sich der Schwerpunkt der Tätigkeit der Alethophilen nach Leipzig. Zugleich nimmt dieser Kreis jetzt einen Charakter an, den er in Berlin so noch nicht oder nur ansatzweise hatte entfalten können. Der Graf ist gut vertraut mit bestimmten in Adelskreisen verbreiteten Formen der Geselligkeit, die in vermeintlicher Anknüpfung an mittelalterliche Ritterorden dem Amusement, der Pflege harmonischer Beziehungen und nicht zuletzt dem Spiel, dem Tändeln mit der Erotik verpflichtet ist. Möglich ist das, weil in der Gesellschaft der Alethophilen Frauen Mitglieder werden können, ja sollen. Das ist in den wenigsten Sozietäten jener Zeit denkbar. Die männlichen Mitglieder tragen die Bezeichnung »Hauptmann«, die weiblichen bilden deren Partner als »Compagnie«. So ist Gottsched z. B. der »Hauptmann« einer der Töchter Manteuffels. Alljährlicher Höhepunkt im Leben der Gesellschaft ist die Feier des Geburtstages des Reichsgrafen. Das Huldigen und das Preisen des »Mäzens« als Vorkämpfer der »Wahrheit« nimmt dann scheinbar kein Ende. Bei allem Kult des Vergnügens wird aber die eigentliche Aufgabe der Wahrheitskämpfer nicht vergessen, das Ringen um die Verteidigung und Durchsetzung der als Einheit verstandenen Philosophie von Leibniz und Wolff. Dafür dienen nicht allein die bereits erwähnten Schriften des Ehepaars Gottsched. Dazu kommt der Entwurf und die Prägung einer Medaille, die in Bildform das Programm der Alethophilen zur Anschauung bringt und noch mehr die Abwehr »falscher« Verbündeter, deren Auftreten die Gefahr in sich birgt, die Wolffianer in den Geruch des Atheismus zu stellen, was die theologischen Widersacher ohnehin schon seit Jahren immer wieder versucht hatten.12 Erwähnt werden mag zuletzt noch die Gründung zweier alethophiler Tochtergesellschaften in Weißenfels13 und Stettin,14 die von Leipzig aus betrieben oder zumindest gefördert worden ist. Wie eng die Bewegung der Alethophilen mit der Person Manteuffels verbunden gewesen ist, zeigt ihr abruptes Ende. Mit dem Tod des Grafen im Januar 1749 erlischt sofort und für immer die Tätigkeit der Leipziger Alethophilen. Freilich bedarf es zu diesem Zeitpunkt wohl auch nicht mehr einer eigenen Formation zur Verteidigung der »neuen Philosophie«. Diese befindet sich jetzt allenthalben und offenbar unaufhaltsam auf dem Vormarsch.
Es mag noch ein kurzer Blick auf Manteuffels Verbindungen über Leipzig hinaus gestattet sein. Für den zurückblickenden Historiker hat der Wechsel des Grafen von Berlin nach Leipzig den Nachteil, dass nun die Überlieferung der Korrespondenz zwischen ihm und dem Ehepaar Gottsched abbricht, womit eine der wichtigsten Quellen zur Geschichte der Alethophilen versiegt. Dafür allerdings nimmt der Briefaustausch zwischen Manteuffel und Wolff nun immer größere Dimensionen an. Darüber berichten die Beiträge von Hanns-Peter Neumann und Jürgen Stolzenberg im vorliegenden Heft. Beide Korrespondenten können darüber hinaus zu den großen Briefschreibern ihrer Epoche gerechnet werden. Beide teilen allerdings auch das Schicksal, dass ihr Briefverkehr, ihr Korrespondenznetz weitgehend unerschlossen, ja fast unbekannt geblieben ist. In kaum einem Jahrhundert jedoch hat der Brief als Medium des Gedankenaustausches eine größere Rolle gespielt als in dem der Aufklärung.15 Das macht die enorme Bedeutung, aber auch die Anziehungskraft der Beschäftigung mit diesem Quellenmaterial aus. Im Gegensatz zu Wolff (zumindest nach unserem gegenwärtigen Erkenntnisstand), über dessen einstmaligen Briefwechsel wir eher nur Mitteilungen besitzen, ist uns die Korrespondenz Manteuffels in weiten Teilen realiter überliefert. Seine Briefpartner sind Adlige und Gelehrte, was an diesem konkreten Beispiel nochmals belegt, dass Adel und Wissenschaft keine getrennten Welten bildeten. Neben Christian Wolff und dem schon ausführlicher erwähnten Ehepaar Gottsched ist es u. a. Jean Henri Samuel Formey, Herausgeber der »Nouvelle Bibliothèque Germanique« und Ständiger Sekretär der Berliner Akademie, der mit Manteuffel in intensiver brieflichen Diskussion steht.16 Auch zu Theologen bestehen Verbindungen, so zu dem hochgelehrten, dem Wolffianismus nahe stehenden Probst Johann Gustav Reinbeck. Unter den Adligen bzw. Hochadligen ist es die Herzogin Luise Dorothee von Sachsen-Gotha-Altenburg,17 mit der der Graf am engsten im Kontakt steht (632 Briefe Manteuffels aus einem Zeitraum von nur sechs Jahren!).18 Die Philosophie Wolffs wird in den Briefen häufig traktiert, daneben geht es um Fragen der Pädagogik. Die Herzogin, zu deren Briefpartnern kein geringerer als Voltaire zählte, soll im Übrigen als nur ein Beispiel für die Bedeutung der kleineren mitteldeutschen Höfe für das geistig-kulturelle Leben der Zeit genannt werden. Die Albertiner in Dresden verfügten im 18. Jahrhundert nur über wenige »intellektuelle Köpfe«, am ehesten ist hier Kurprinz/Kurfürst Friedrich Christian zu nennen, aber die Wettiner, Schwarzburger, Reußen und Askanier betrieben wenigstens partiell eine intensive Kulturpolitik, die ihre kleinen Höfe zu deutschland- und teilweise europaweitem Ruhm verhalfen; man denke nur an Weimar und Dessau.
Die Verbreitung der Philosophie Christian Wolffs als der zeitweise herrschenden Denkrichtung der deutschen Aufklärung ist aufs Engste mit den Namen Gottsched und Manteuffel verbunden. Jeder von ihnen hat auf je eigene Weise entscheidend dazu beigetragen, den Wolffianismus erst zu verteidigen und dann zu vermitteln – an den Schulen, den Universitäten, an den Höfen, in den Kreisen der Gebildeten allgemein. Beide, der Universitätsprofessor und der Reichsgraf, standen dabei in enger Verbindung, wie sie beide wiederum dem Schulhaupt Wolff außerordentlich nahe standen. Alles das hat seinen Niederschlag in Korrespondenzen gefunden, die mit insgesamt annähernd achthundert Briefen geradezu ein Monument der Aufklärungsbewegung in der Mitte des 18. Jahrhunderts darstellen. Ihre Erschließung durch die gemeinsam operierenden Editionsvorhaben19 in Halle (Briefwechsel Wolff-Manteuffel) und Leipzig (Korrespondenz Gottscheds und seiner Frau) bildet daher ein zentrales Vorhaben der Aufklärungsforschung.
- 1Wolfgang Martens (Hg.), Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit, Heidelberg 1990.
- 2Vgl. Wieland Held, »Die Verbindungen des frühneuzeitlichen sächsischen Adels zur Stadt«, in Helmut Bräuer und Elke Schlenkrich (Hg.), Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Festschrift für Karl Czok zum 75. Geburtstag, Leipzig 2001, S. 393–412.
- 3Vgl. Alberto Schwarz (Hg.), Schlösser um Leipzig, Leipzig 1994. Die durchaus verdienstvolle Arbeit beschränkt sich auf die kunstgeschichtlichen Dimensionen des Themas.
- 4Seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts haben die Forschungen zum sächsischen Adel einige Fortschritte erzielt. Daran beteiligt ist vor allem das Dresdner »Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e. V.«, wo die Beschäftigung mit der Adelsgeschichte einen der Arbeitsschwerpunkte bildet.
- 5Grundlegend zu Manteuffel ist jetzt die Arbeit von Johannes Bronisch, Der Mäzen der Aufklärung. Ernst Christoph von Manteuffel und das Netzwerk des Wolffianismus, Berlin / New York 2010. Die folgenden Ausführungen verdanken jenem Werk manche Anregung.
- 6Vgl. Detlef Döring, »Der Wolffianismus in Leipzig. Anhänger und Gegner«, inAufklärung 12/2 (1997); Hans-Martin Gerlach (Hg.), Christian Wolff – seine Schule und seine Gegner, Hamburg 2001, S. 51–76.
- 7Vgl. Detlef Döring, Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz’ und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Stuttgart/Leipzig 1999, S. 44–82.
- 8Über die Rezeption seiner Schriften und die Rolle, die Manteuffel dabei spielte, berichtet Wolff in einem Brief an seinen Schüler Georg Bernhard Bilfinger: »Der Kronprinz von Preußen ist mir ziemlich günstig und hat in meiner Philosophie, mit welcher er sich anhaltend beschäftigt, große Fortschritte gemacht; auch die Königin, sammt anderen hochadligen Damen, ist meinen Schriften nicht fremd; was ich besonders dem Grafen von Manteuffel verdanke, der in beständigem literarischen Verkehr mit dem Kronprinzen steht.« (Schreiben vom 20. Dezember 1736, zitiert nach: Gustav Schwab, Georg Bernhard Bilfinger und seine Korrespondenz, in ders. Kleine prosaische Schriften, ausgewählt und herausgegeben von Karl Klüpfel, Freiburg i. Br. / Tübingen 1882, S. 83–120, Zitat S. 114, deutsche Übersetzung des lateinischen Originals durch Gustav Schwab).
- 9Zu den Alethophilen vgl. Detlef Döring, »Beiträge zur Geschichte der Gesellschaft der Alethophilen in Leipzig«, in Detlef Döring und Kurt Nowak (Hg.), Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650–1820), Teil I, Stuttgart/Leipzig 2000, S. 95–150; Bronisch, Der Mäzen (Fn. 5), S. 124–170.
- 10In die Zählung sind auch die wenigen Briefe einbezogen worden, die die Gottscheds mit Manteuffel nach dessen Übersiedlung nach Leipzig wechselten.
- 11Vgl. Andres Straßberger, Johann Christoph Gottsched und die »philosophische« Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik, Tübingen 2010.
- 12Vgl. auch hier die ausführlichen Untersuchungen von Bronisch, Der Mäzen (Fn. 5), S. 306–378.
- 13Vgl. Stefan Lorenz, »Wolffianismus und Residenz. Beiträge zur Geschichte der Gesellschaft der Alethophilen in Weißenfels«, in Detlef Döring und Kurt Nowak (Hg.), Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650–1820), Teil III, Stuttgart/Leipzig 2002, S. 113–144.
- 14Vgl. Detlef Döring, »Gelehrte Gesellschaften in Pommern im Zeitalter der Aufklärung«, in Dirk Alvermann, Nils Jörn und Jens E. Olesen (Hg.), Die Universität Greifswald in der Bildungslandschaft des Ostseeraums, Berlin 2007, S. 123–153.
- 15Aus der zu diesem Thema vorliegenden Literatur verweise ich nur stellvertretend auf Klaus-Dieter Herbst und Stefan Kratochwil (Hg.), Kommunikation in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. u. a. 2009.
- 16Vgl. Bronisch, Der Mäzen (Fn. 5), S. 221–224.
- 17Vgl. Helmut Roob, »Herzogin Luise Dorothee von Sachsen-Gotha-Altenburg (1710–1767). Eine außergewöhnliche Fürstin im Thüringer Barock«, inMitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte 17 (2010), S. 72–80, dort auch über die Beziehungen der Fürstin zu Voltaire, Manteuffel und Wolff.
- 18Vgl. Bronisch, Der Mäzen (Fn. 5), S. 224–231.
- 19Dies ist zum einen dieHistorisch-kritische Edition des Briefwechsels zwischen Christian Wolff und Ernst Christoph Graf von Manteuffel, ein in Kooperation der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig durchgeführtes und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt mit Sitz am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (IZEA) in Halle, die Projektleiter sind Jürgen Stolzenberg und Detlef Döring. Zum anderen ist dies die Edition des Briefwechsels von Johann Christoph Gottsched, ein Langzeitvorhaben der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig im Rahmen des Akademienprogramms, Projektleiter ist Manfred Rudersdorf, Arbeitsstellenleiter Detlef Döring.