Über die Idee eines nationalen Bildungsrats
Ein Beitrag zur Bildungspolitik
1. Warum brauchen wir einen Nationalen Bildungsrat?
Seit vielen Jahren haben wir in der Bundesrepublik Deutschland lebhafte und zum Teil heftige, parteipolitisch orientierte Diskussionen über unser Bildungssystem. Und zwar über das Bildungssystem in seiner ganzen Breite: Vorschulische Bildung, Schulen, Hochschulen, Forschung, Berufsbildung und Weiterbildung. Wir haben schier endlose und sich zum Teil wiederholende Diskussionen über Bildungsinhalte in Kindergärten, Spracheingangsprüfungen, Schulstrukturen und Ganztagsschulen, Differenzierung und Dauer gemeinsamen Lernens, Bildungsstandards und deren Umsetzung, Sprachen und Sprachenfolgen, MINT-Fächer, Defizite in Wirtschaftskompetenz, Sport und ästhetischer Bildung, G8/G9, Integration und Inklusion, Hochschulzulassung und Studiengebühren, gestufte Studiengänge an Fachhochschulen und Universitäten und deren modulare Verwerfungen, Defizite der Lehrerbildung, über das Verhältnis von Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, Anzahl und qualitative Anforderungen von Ausbildungsberufen und Berufsfachschulen, Durchlässigkeit der Bildungseinrichtungen, Anerkennung ausländischer Abschlüsse, Mangel an Fachkräften und Defizite in der Organisation lebenslangen Lernens – um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Eine kleine Auswahl, die die skurril-politischen, zum Teil kabarettreif unlösbaren Probleme wie Sommerferienregelung und Rechtschreibreform noch gar nicht enthält.
Auffällig und von der Öffentlichkeit empfindlich wahrgenommen werden Diskussionen, die sich wiederholen und zu keinem Ende führen und solche, die zwar in eine Richtung zu führen scheinen, wie zum Beispiel die Verkürzung der Zeit bis zum Abitur um ein Jahr, sich dann aber wieder umkehren. Von zwölf auf dreizehn Jahre in den neuen Bundesländern, von dreizehn auf zwölf Jahre in allen Bundesländern und nun wieder von zwölf auf dreizehn Jahre in einigen Bundesländern. Auffällig ist auch die Beendigung von Diskussionen durch die Ausrufung eines Schulfriedens, der scheinbar von Streit freistellt und dem allgemeinen Wunsch nach Organisationsruhe und verlässlicher Kontinuität folgt, aber eben auch Stillstand der Rechtspflege bedeutet und Rückzug aus der aktuellen bildungspolitischen Verantwortung. Verbunden hiermit ist dann auch die Dezentralisierung von Bildungsverantwortung von der Landesregierung weg zu Kommunen und Regionen, die gefälligst selber entscheiden sollen, was das für sie jeweils Richtige ist. Jenseits jeder Parteipolitik und aller wissenschaftlichen Konzepte verlangt gesunder Menschenverstand einen Neuansatz, von dem aus die zentralen Bildungsfragen unserer Zeit erörtert werden können.
Stellenwert und Intensität der öffentlichen Diskussion über Bildung zeigen eben auch den hohen Stellenwert, den Bildung in unserer Gesellschaft einnimmt und damit ihr Gewicht für die Politik von Bund, Ländern und Kommunen. Neben »Wirtschaft« ist »Bildung« inzwischen wahlentscheidend. Dabei ist immer deutlicher geworden, wie sehr beide Bereiche miteinander verflochten und voneinander abhängig sind. Bildung ist in das Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit gerückt, denn von ihr hängt nicht nur der Lebenslauf jedes Einzelnen ab, sein persönliches Schicksal und seine gesellschaftliche Position, sondern zugleich die Entwicklung unserer Gesellschaft überhaupt und damit die Zukunft unserer Kinder. Optionen jedes Einzelnen wie Optionen von Gesellschaft und Politik werden durch Bildung bestimmt. Ihre Qualität bestimmt maßgeblich, ob unsere Demokratie lebendig bleibt, ob unser politisches System sich in bewegten und wirren und nicht genau überschaubaren Zeiten als stabil erweist und ob sich Lebensqualität und Wohlfahrt auch für die kommenden Generationen dynamisch entwickeln.
Verantwortlich für die Schulpolitik sind die Länder in der Bundesrepublik Deutschland. Die Verantwortung der Bundesregierung beschränkt sich vor allem auf die Mitwirkung bei der außeruniversitären Forschung, auf den betrieblichen Teil der Berufsausbildung und auf Fragen der Weiterbildung. Die Kernbereiche, Schulen und Hochschulen, sind Sache der Länder. Oder, wie der frühere Staatsminister des Freistaats Bayern, Hans Zehetmair, zu sagen pflegte, um die politische Rollenverteilung deutlich zu machen: »Die Länder leisten sich den Bund«! Und nicht umgekehrt. Das bedeutet aber auch uneingeschränkte Verantwortung der Landespolitik für alles, was in den Schulen und Hochschulen geschieht oder eben auch nicht geschieht.
Festzuhalten ist jedenfalls, dass diese Rollenverteilung in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr so ohne Weiteres akzeptiert wird. Und dies, obwohl seit dem einschneidenden PISA-Erlebnis in Deutschland die Länder erhebliche bildungspolitische Fortschritte über die Kultusministerkonferenz nachweisen können. Es wurde ein eigenes »Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungsbereich« geschaffen, das Bildungsstandards entwickelt – deren Umsetzung dann allerdings in der Hand jedes einzelnen Landes liegt. Und die umgehend definierten sieben Handlungsfelder für die Bildungspolitik der Länder können bis heute als Leitlinien gelten. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung scheint das alles nicht zu reichen. Die Kritikfelder gehen von
– Problemen der Unterrichtsversorgung und Qualität der Lehrerbildung,
– über Mobilitätshindernisse bei Ortswechseln
– zu den Fragen der Leistungsfähigkeit im internationalen Vergleich und nicht akzeptablen Unterschieden in der Qualität von Schulsystemen zwischen den Ländern,
– von Gerechtigkeit in der Verteilung von Bildungschancen,
– zu Steuerungsproblemen bei der Verwaltung von Bildungseinrichtungen.
Zudem hat sich in den letzten Jahren die Rolle der Kommunen entscheidend verändert. Ihre Bedeutung ist erheblich gewachsen. Schulen sollen ein höheres Maß an Selbstständigkeit erhalten. Über Modelle von regionalen »Bildungslandschaften« sind neue Formen des Zusammenwirkens des jeweiligen Landes, des Bundes und der einbezogenen Kommunen entstanden und zwar einschließlich ihrer Finanzierung. Wie überhaupt gravierende Finanzierungsfragen sowohl beim Schulsystem als auch bei den Universitäten in den Vordergrund getreten sind. Nicht zuletzt deshalb, weil der Bund nur zeitlich befristete Mittel zur Verfügung stellen darf, womit sich die gravierende Frage der Anschlussfinanzierung nach Auslaufen von Modellen an Schulen und ganz besonders nach Auslaufen des Hochschulpakts, der Exzellenzinitiative, des Pakts für Forschung und Innovation für die Universitäten stellen wird. Die Länder werden die Anschlussfinanzierung unter den Bedingungen ihrer jetzigen Finanzausstattung und der sogenannten Schuldenbremse nicht gewährleisten können.
Dabei muss außerdem politisch in Rechnung gestellt werden, dass finanzpolitische Schwerpunktsetzungen zugunsten von Bildung in Schulen und Hochschulen Investitionen darstellen, die sich in der Regel – ausgenommen die unmittelbar politisch wirkende Frage der Unterrichtsversorgung – wahlpolitisch eben nicht zeitnah auswirken. Ihre Ergebnisse zeigen sich erst nach vielen Jahren und fordern ein Denken weit über das politische Kalkül von Legislaturperioden hinaus. Der Entscheidungsdruck geht deshalb eher in Richtung kurzfristig sichtbarer Investitionen, auf greif- und sichtbaren Erfolg, ein Druck der sich in seiner Unmittelbarkeit naturgemäß eher in Land und Kommune und deren Haushaltsentscheidungen als im Bund auswirkt.
Warum brauchen wir also einen Nationalen Bildungsrat? Die Robert Bosch Stiftung hat in einer Pressekonferenz am 22. Mai 2012 ein »Plädoyer für die Einrichtung eines Nationalen Bildungsrats« vom März 2012 der Öffentlichkeit vorgestellt, ein Papier, in dem sich einige bildungspolitisch Erfahrene über Notwendigkeit, Voraussetzungen und Aufgaben eines Nationalen Bildungsrats äußern.
Zunächst einmal muss deutlich sein, was er nicht soll: Er soll nicht der allgemein formulierten Erwartung von mehr Bundeszuständigkeit folgen und nicht das Ziel verfolgen, ein einheitliches Bildungssystem zu schaffen; denn nur das Zusammenwirken von zentralen Vorgaben mit den örtlich gegebenen Bedingungen und dies in Verbindung mit einem systematischen Monitoring kann die Qualität von Bildung verbessern. Es ist nichts gewonnen, wenn Zuständigkeit und Verantwortung einfach von den Ländern auf den Bund übertragen werden. Auch wenn vermutlich eine unmittelbare Abstimmung der Bürger eine weit überwiegende Mehrheit für zentrale Bildungsverantwortung ergeben würde. Ich meine aber, dass sich diese Stimmung rasch verkehren würde, wenn die Konsequenzen zentraler Schulpolitik sichtbar würden. Die föderale Struktur des Bildungswesens muss – zum Beispiel durch einen Bildungsrat – gestärkt werden, weil nur so die besten Wege auch in ihrer regionalen Besonderheit sichtbar werden können.
Weiter soll der Bildungsrat nicht die politische und staatliche Verantwortung für Bildung ersetzen oder gar übernehmen wollen. Sie verbleibt unangetastet dort, wo sie demokratisch legitimiert ist und gegenüber den Wählern auch gerechtfertigt werden muss.
Aber ein Nationaler Bildungsrat kann im Zusammenwirken von Wissenschaft, klugen und im Bildungsbereich erfahrenen und mit gesundem Menschenverstand versehenen Personen, staatlicher Kompetenz und staatlicher Umsetzungsbereitschaft eine Plattform abgeben, auf der gemeinsam alternative Lösungen entwickelt werden. Voraussetzung dafür ist eine hohe Reputation aller beteiligten Akteure und die dadurch zu erwartende öffentliche Akzeptanz der erarbeiteten Empfehlungen. Dem Wissenschaftsrat ist es gelungen, diese Akzeptanz zu erwerben.
Im »Plädoyer für die Einrichtung eines Nationalen Bildungsrats« werden die zentralen Problemdimensionen, die einer Rahmung bedürfen und hierfür auch zugänglich sind, benannt:
– »die Kompetenzordnung im Bildungswesen verlangt eine Analyse, vertikal und dann auch im Blick auf die Kommunen, sowie horizontal und dann nicht nur für das Zusammenwirken von Bund und Ländern, sondern auch für Ressorts, die für Bildung als Form der Ordnung des Generationenverhältnisses bedeutsam sind: Zum Beispiel Bildung und Soziales, Jugend und Familie, Wirtschaft und Wissenschaft, Arbeit und Finanzen;
– eine Strukturrahmung für das Bildungssystem ist dringend erforderlich. Denn nicht nur in den Bildungsgängen, auch in der Ordnung der Schulformen, Bildungsgänge, Abschlüsse, Curricula und Qualitätskriterien gibt es mehr Nebeneinander als zur Orientierung der Akteure sinnvoll ist;
– die Bildungsfinanzierung ist das unerledigte Problem der jüngsten Neuordnung der Kompetenzen des Föderalismus. Und zwar für Bund, Länder und Gemeinden insgesamt und dies auch nicht nur im Hochschul- und Wissenschaftsbereich. So könnte der Bildungsrat, wie in der Vergangenheit hinsichtlich der Hochschulbauten und Großgeräte im Wissenschaftsrat geschehen, finanzierungsrelevante Empfehlungen zu Projekten im Bildungsbereich abgeben. Dieses würde sein Gewicht politisch erheblich stärken;
– die Kompetenz und Professionalität und damit die Ausbildung des pädagogischen Personals auf allen Ebenen des Bildungssystems ist weitgehend ungelöst. In vielen Bereichen ist der Rat aus der Distanz hier besonders dringlich;
– Maßnahmen der Standard- und Qualitätssicherung hat die Kultusministerkonferenz bereits in die Realität umgesetzt. Sie bedürfen der reflektierten Beobachtung. Schon damit exemplarisch auch die Frage unerwünschter Folgen des bildungspolitischen Handelns thematisch wird.«
Die allgemeine Unzufriedenheit mit der jetzigen Situation im Bildungsbereich und über die Art, wie mit ihr politisch umgegangen wird, ist ständig gewachsen. Die Kultusministerkonferenz muss der Öffentlichkeit, vor allem natürlich den Eltern und Lehrern, immer wieder als Ursache allen Übels herhalten. Zu Unrecht! Sie tut in ihrem Rahmen, was sie kann, und ist entschieden erfolgreicher, als ihr Ruf es nahelegt. Die Kultusministerkonferenz wird aber selbst von den politisch Verantwortlichen in den Ländern immer wieder desavouiert und verantwortlich gemacht für alles das, was man angeblich nicht darf oder tun muss, weil die Kultusministerkonferenz es beschlossen habe. Dabei gibt auch sie nur Empfehlungen ab, mit der die Länder dann eben so oder so umgehen. Die Länder allein sind verantwortlich für das, was sie tun oder eben auch nicht tun. Die bildungspolitisch Verantwortlichen vergessen ganz gerne, dass sie selbst die Kultusministerkonferenz sind. Politisch verständlich, aber das mutet dann immer wieder etwas seltsam an.
2. Historischer Exkurs oder Bildungspolitik und die Ewige Wiederkehr des Gleichen
Jeder, der mit Bildungspolitik einigermaßen vertraut ist, weiß, dass es in den sechziger und siebziger Jahren einmal einen Deutschen Bildungsrat gegeben hat. Einer, der gute Ideen hatte, aber ziemlich kläglich gescheitert ist. Aus meiner Sicht ist er gescheitert, weil er zwar kluge Menschen mit klugen Empfehlungen zusammenbrachte, aber diejenigen, die in Bund und Ländern für die Umsetzung von Empfehlungen zuständig sind, nicht substantiell einbezog. Er war in seiner Konzeption nicht auf den Konsens zwischen Wissenschaft und allgemein anerkannten Personen des öffentlichen Lebens auf der einen Seite und den staatlichen Entscheidungsträgern auf der anderen Seite angelegt. Und das musste auf eine Konfrontation von guter Idee und interessegeleiteter staatlicher Politik hinauslaufen, bei der dann – wie das im Leben eben so ist – die Idee in der Regel den Kürzeren zieht. Wie man überhaupt bereits durch die oben genannten offenen Probleme den Eindruck gewinnen könnte, als habe Nietzsche großen Einfluss auf deutsche Schulpolitik gewonnen.
Protokollen von Kabinettssitzungen der Bundesregierung über die Errichtung eines Deutschen Bildungsrates kann man entnehmen, dass ursprünglich wissenschaftliche Experten und politische Entscheidungsträger in Analogie zu dem im Jahr 1957 gegründeten und bereits damals erfolgreich arbeitenden Wissenschaftsrat in einem Bildungsrat zusammenwirken sollten. Die scharfe und überwiegend kritische Diskussion der Arbeit des Deutschen Bildungsrats von 1969 bis 1975 hat aus den Augen verloren, dass dieser ursprünglich durchaus nach dem Vorbild des Wissenschaftsrats gedacht war.
So heißt es – und das klingt wie von heute – im Kabinettsprotokoll der Bundesregierung vom 6. Mai 1964: »Angesichts der auch nach Meinung der Bundesregierung schwerwiegenden Mängel des deutschen Bildungs-, insbesondere Schulwesens hatte sich der BMI [Bundesminister des Innern] seit Beginn des Jahres 1963 um die Errichtung eines Deutschen Bildungsrats durch Bund und Länder bemüht. Dieser sollte nach dem Vorbild des Wissenschaftsrates für eine möglichst einheitliche Bildungspolitik in der Bundesrepublik Sorge tragen und außerdem dem Bund einen angemessenen Einfluss sichern«.
Leider wurde jedoch wegen der verfassungsgemäß unterschiedlichen Zuständigkeit von Bund und Ländern im Schulwesen das Vorbild des Wissenschaftsrats nicht wirklich durchgehalten. Auch die reformorientierten Kultus- minister der Union, Paul Mikat und Wilhelm Hahn, gingen wie die Ministerpräsidenten der Länder nur so weit, den Bildungsrat aus einer Bildungskommission mit Wissenschaftlern und einer nur beratenden Regierungskommission von Bund und Ländern zu bilden. Das war der entscheidende Konstruktionsfehler, der erlaubte, Empfehlungen zu verabschieden, die eben nicht von dem für jede Umsetzung erforderlichen Konsens zwischen Wissenschaft und Staat getragen wurden. Allein dieser Konsens führt aber mit einiger Wahrscheinlichkeit zur Realisierung der gemeinsamen Empfehlungen. Es war auch vorgesehen, die Mitglieder wie beim Wissenschaftsrat vom Bundespräsidenten ernennen zu lassen und der Einrichtung auf diese Weise einen hohen gesellschaftlichen und politischen Stellenwert zu gewähren. Es sollte sogar die notwendige Zusammenarbeit zwischen dem Wissenschaftsrat und dem Bildungsrat durch einen Koordinierungsausschuss sichergestellt werden. Die Kabinettsprotokolle vermitteln auch einen Eindruck darüber, welche Auseinandersetzungen es zwischen der Bundes- und der Länderseite gegeben hat. Die Länder wollten – damals jedenfalls – durchaus einen Deutschen Bildungsrat. Man wollte allerdings den Einfluss des Bundes von der Schulpolitik möglichst fernhalten. Der Bund sollte nur je vier Mitglieder von je achtzehn in Bildungskommission und Regierungskommission stellen. Die Benennungen der Länderseite erfolgte durch die Ministerpräsidentenkonferenz. Das führte bis hin zu Diskussionen der Länder mit dem Bund über das Benennungsverfahren und darüber, ob denn wirklich der Bundespräsident die Mitglieder berufen solle.
In einer Sondersitzung der Kultusministerkonferenz am 29. September 1965 wurde sehr ausführlich zwischen den Ministern über die Vorschläge von Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Praxis und öffentlichem Leben gesprochen: Sie reichen von Hellmut Becker, von Hentig, die Brüder von Weizsäcker, zu Berthold Beitz, dem Bankier Abs, Hans Maier, Heinrich Roth, Dahrendorf und Picht. Mit immerhin drei der Ländervorschläge sollten Vertreter der Kommunalen Spitzenverbände benannt werden. Die prominenten Namen zeigen, welche zentrale Bedeutung dem Deutschen Bildungsrat von den Ländern zugeschrieben wurde. In jedem Fall sollte der Eindruck vermieden werden, als handele es sich beim Bildungsrat um eine von der Kultusministerkonferenz abhängige Einrichtung oder dass sich die Kultusministerkonferenz selber als Bildungsrat verstehe. Die endgültige Entscheidung über die Benennungen behielt sich die Ministerpräsidentenkonferenz vor.
Einer der profiliertesten Vertreter im Deutschen Bildungsrat war Ralf Dahrendorf. Er äußert sich in der »Zeit« (Ausgabe 46/1964) über »Die Aufgaben des Bildungsrates«. Zunächst lobt er die »oft geschmähte« Kultusministerkonferenz; sie habe wider Erwarten »folgenschwere Reformbeschlüsse« gefasst. Und dann benennt er exakt die Gründe, die auch heute zu einem Plädoyer für einen Nationalen Bildungsrat geführt haben. Grundtatsachen seien: dass erstens in der modernen Gesellschaft Umfang, Art und Qualität der Ausbildung der Menschen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, das Niveau der politischen Teilnahme und den Stand der kulturellen Entwicklung bestimmten. Dass zweitens die Bundesrepublik einen erheblichen, auch qualitativen Rückstand gegenüber vergleichbaren Ländern aufweise. Dass drittens Reserven an Talenten entwickelt werden müssen und Gruppen im deutschen Bildungswesen ungerechterweise zu kurz kämen.
Ein Bildungsrat als neues Steuerungsinstrument sollte eben dieses beheben. Im genannten »Plädoyer für die Einrichtung eines Nationalen Bildungsrats« ist entsprechend von einem Leistungsdefizit, einem Gerechtigkeitsdefizit und einem Steuerungsdefizit als Hinweise auf signifikante Schwächen unseres heutigen Bildungssystems die Rede.
Und was die Ewige Wiederkehr des Gleichen angeht: Paul Mikat wollte vor Jahrzehnten Ganztagsschulen in Nordrhein-Westfalen einführen und Wilhelm Hahn forderte vor Jahrzehnten Mut zur Erziehung in den Schulen … Georg Pichts »Bildungskatastrophe« und »Bildungsnotstand« sind nur einer »Bildungspanik« von Eltern vor allem aus dem Mittelstand gewichen, die die Sorge um die wirtschaftliche Zukunft ihrer Kinder umtreibt, so Heinz Bude.
3. Wie also muss ein Nationaler Bildungsrat aussehen?
Wenn er wirklich wirken soll, muss er hohes Ansehen genießen. Wie der Wissenschaftsrat sollte er dem Bundespräsidenten zugeordnet sein, weil dieser Bund und Länder repräsentiert und das Bildungsthema dadurch aus der politischen Gemengelage von Bund und Ländern und Ländern untereinander herausgehalten werden kann. Zugleich kann eine Zuordnung zum Bundespräsidenten die Chancen verbessern, dass seine Empfehlungen Gehör finden und von der Öffentlichkeit akzeptiert werden. Sein Ansehen muss er sich dann allerdings durch seine Arbeit selbst erwerben. Wenn die Begründung eines Nationalen Bildungsrats und seine Aufgaben deutlich geworden sind, geht es nun wesentlich darum, wie die Personen gewonnen werden können, die sie erfüllen sollen, und in welcher Struktur sie dieses am besten tun können.
Zunächst sollte wieder klar sein, wie die Personen nicht gewonnen werden dürfen. Sie dürfen in keinem Fall als Funktionäre von Verbänden und Gewerkschaften, von Gesellschaften und Vereinen ausgewählt werden. Sie dürfen also keine Interessenvertreter sein.
Wie der Wissenschaftsrat besteht auch der Bildungsrat aus zwei Kommissionen. Eine Kommission, die Wissenschaftliche Kommission, setzt sich aus wissenschaftlichen Experten, praxiserfahrenen Personen und Personen zusammen, die eine hohe öffentliche Reputation in Bildungsfragen genießen. Die zweite Kommission, die Verwaltungskommission, besteht aus den politisch verantwortlichen Vertretern, also den zuständigen Ministern von Bund und Ländern. Die Vollversammlung verbindet dann Wissenschaft, Bildungspraxis und Politik, Administration und Öffentlichkeit.
Die Mitglieder der Wissenschaftlichen Kommission werden vom Bundespräsidenten berufen. Sie stellt auch den Vorsitzenden des Bildungsrats. Sie werden in einem objektivierten Verfahren unter maßgeblicher Beteiligung von Bund und Ländern aus den beteiligten wissenschaftlichen Disziplinen und aus dem Kreis von Personen mit Praxis im Bildungsbereich und Reputation in Bildungsfragen gewonnen. Objektiviertes Verfahren meint, dass die Vorschläge aus dem Wissenschaftsbereich einvernehmlich von den Wissenschaftsorganisationen, wie zum Beispiel der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Max-Planck-Gesellschaft oder der Leibniz-Gemeinschaft, gemacht werden. Die Vorschläge an den Bundespräsidenten aus dem Bereich der Experten aus der Bildungspraxis und Personen mit hoher Reputation in Bildungsfragen erfolgen einvernehmlich zwischen Bund, Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden. Im Unterschied zum Wissenschaftsrat können die für den Nationalen Bildungsrat berufenen Wissenschaftler jedoch nicht mit ihrer Expertise zur praktischen Seite ihrer Wissenschaft auch zugleich die insgesamt erforderliche bildungspraktische Kompetenz gewährleisten. Deshalb haben die Experten aus der Bildungspraxis hier ein besonderes Gewicht.
Empfehlungen können dann nur gemeinsam von beiden Kommissionen beschlossen werden. Seine Themen kann der Bildungsrat wie der Wissenschaftsrat entweder selbst oder über Aufträge von Bund und Ländern im jährlichen Arbeitsprogramm festlegen. Er berichtet dem Bundespräsidenten und der Ministerpräsidentenkonferenz.
Die im Grundsatz gleiche Struktur von Wissenschaftsrat und Bildungsrat gewährleistet auch, dass die gesamte sogenannte »Bildungskette« auf vergleichbare Weise angesehen und dann gegebenenfalls mit vergleichbar entwickelten Empfehlungen versehen wird. Nur so können die zahlreichen und immens wichtigen Schnittstellen zwischen Schule, Hochschule und Berufsleben geordnet und effizient gestaltet werden. Die von den Ländern beschlossene Flexibilisierung von Übergängen zwischen den verschiedenen Bildungsbereichen kann so zu einer realistischen Chance für viele Menschen werden, die sich weiterqualifizieren wollen. Und dies ist inzwischen nicht mehr nur eine Frage des persönlichen Interesses, sondern ein Erfordernis unserer Berufswelt.
4. Beispiel: Lehrerbildung in föderaler Verantwortung
Am Beispiel der Lehrerbildung in der Bundesrepublik Deutschland wird deutlich, wie dringlich Empfehlungen eines Bildungsrats sind. Lehrerbildung ist ein allgemein anerkanntes Schlüsselfeld für die Qualität und die Leistungsfähigkeit unserer Schulen, auch wenn sich – um das Wort »Schweinezyklus« zu vermeiden – die quantitative Frage der Unterrichtsversorgung immer wieder periodenhaft in den Vordergrund schiebt.
Es liegt nahe, die Ausbildung von Medizinern und Lehrern miteinander zu vergleichen. Beide müssen vielfältige wissenschaftliche Kenntnisse und Verfahren mit Berufspraxis verbinden. Den Medizinern ist das über ihre Fakultät in Zusammenarbeit mit den universitären Grundlagenfächern und den Lehrkrankenhäusern gelungen. Bei allen Diskussionen über eine Reform des Medizinstudiums verfügen sie über ein funktionierendes Organisationsmodell, das die strukturell ganz verschiedenen Ausbildungsfelder miteinander verbindet. Ganz anders in der Lehrerbildung. Nachdem die Pädagogischen Hochschulen – vor allem wegen der Verbesserung der Besoldung der Lehrer – in die Universitäten integriert wurden, ist dort nicht nur wie schon zuvor die Gymnasiallehrerausbildung angesiedelt, sondern die Ausbildung für alle Lehrämter. Die Fach-zu-Fach-Zuweisung hat dazu geführt, dass die Fächer zwar die höheren Studentenzahlen genutzt haben, um die Zahl ihrer Professuren zu erhöhen, aber nach wie vor in der Regel keine lehramtsspezifische Ausbildung anbieten. Der künftige Grund- und Hauptschullehrer, der Mathematik und Deutsch in der Grundschule unterrichten soll, bekommt dasselbe fachliche Lehrangebot wie der Mathematiker und Germanist, der einen fachwissenschaftlichen Abschluss anstrebt. Und das geht nicht! Von einer Einbeziehung der Fachpraxis und einer wissenschaftlichen Reflexion von Fachpraxis kann gar nicht die Rede sein. Die Studierenden haben keinen Ort in der Universität, der ihnen die Integration von Wissenschaft und Praxis erleichtern könnte.
Es ist bis heute trotz vieljähriger Diskussionen nicht gelungen, ein vernünftiges Konzept für die Ausbildung von Lehrern an Universitäten zu entwickeln und vor allem durchzusetzen. Das fachwissenschaftliche Interesse ist allemal stärker, professorale Karrieren laufen über fachwissenschaftliche Publikationen, die Erziehungswissenschaften und Fachdidaktiken haben in den inneruniversitären Verteilungskämpfen mangels wissenschaftlicher Reputation kaum die Kraft, die Belange von Lehrerbildung durchzusetzen. Rankings und Exzellenzinitiative haben dieses Manko eher noch verstärkt. Hinzu kommt, dass sich auch auf der Ebene der Ministerien die Interessen von Wissenschaft und Forschung einerseits und die der Kultusministerien andererseits, der Abnehmerseite also, nicht zugunsten der Lehrerbildung vermitteln lassen. Und das alles, obwohl jeder weiß, dass Lehrerbildung das Schlüsselfeld für die Qualität von Unterricht ist und deshalb mit weitreichenden Folgen für das Schicksal des Einzelnen und für unsere Gesellschaft insgesamt verbunden ist. Dies ist zum Beispiel eine lohnende Aufgabe für einen Nationalen Bildungsrat: die strukturellen und inhaltlichen Voraussetzungen für eine gute Ausbildung von Lehrern zu definieren und für die politische Umsetzung Sorge zu tragen.
5. Und wie sieht es mit der politischen Akzeptanz heute aus?
Im Zusammenhang mit der Diskussion über Konsequenzen des sogenannten Kooperationsverbots, das in der letzten Föderalismusreform jede Möglichkeit ausschloss, dass der Bund unmittelbar und dauerhaft Mittel für Schule und Hochschule zur Verfügung stellt, wurde auch die Idee eines Nationalen Bildungsrats wieder in die Diskussion eingeführt. In den Bildungspolitischen Leitsätzen der CDU vom 15. November 2011 taucht unvermittelt die Forderung auf, einen Bildungsrat in Analogie zum Wissenschaftsrat einzurichten. Da sich die Diskussion mehr um die Frage der Weiterführung der Hauptschule kümmerte, wurde dieser Punkt kaum diskutiert und, kann man unterstellen, verabschiedet, ohne die weitreichenden Folgen für diese qualitativ ganz neue und dann auch formalisierte Zusammenarbeit von Bund und Ländern dabei im Blick zu haben. Denn es waren in der Vergangenheit eigentlich immer die CDU-geführten Länder, die massiv auf die Rechte ihrer »Kulturhoheit« bestanden und sich wie bereits bei der Schaffung des Bildungsrats in den sechziger Jahren jede Einmischung oder gar Mitverantwortung des Bundes empfindlich verbaten.
Die Reaktionen reichten von prompter Ablehnung einiger Ländervertreter über zum Teil vorsichtiges Interesse aller Parteien bis hin zur klaren Zustimmung von Mandatsträgern verschiedener Länder und verschiedener Couleur sowie von Verbänden. Die SPD verband ihre Zustimmung zur Abschaffung des sogenannten Kooperationsverbots mit der Forderung, das Grundgesetz so zu ändern, dass der Bund auch Mitverantwortung und Mitfinanzierung im Schulbereich übernehmen kann – wohl wissend, dass diese Forderung bereits im Kreis der eigenen Ministerpräsidenten zum Scheitern verurteilt ist.
Schon wieder ein neues Gremium! Das ist häufig die erste Reaktion und das bedeutet: nicht schon wieder ein Ort, an dem nur geredet wird. Das gilt aber nicht für den Wissenschaftsrat und würde auch für einen Bildungsrat nicht gelten. Allerdings würde die Einführung eines Bildungsrats dazu führen, die Arbeitsformen von Kultusministerkonferenz und Gemeinsamer Wissenschaftskonferenz zu überprüfen.
Für alle Beteiligten könnte der Nationale Bildungsrat einen ersten Schritt darstellen, mithilfe des allseits als bewährt angesehenen Modells des Wissenschaftsrats eine neue Form der Kooperation im Schulbereich zu finden. Die äußeren politischen Bedingungen hierfür sind günstig: Die Öffentlichkeit hat kein Verständnis mehr für schulpolitisches Wirrwarr und auch die Finanzlage der Länder zwingt zu neuen Formen der Kooperation. So versteht niemand mehr, was sich unter den vielen Bezeichnungen von Schulen in den Ländern verbirgt, und es ist absehbar, dass eine angemessene Finanzierung der Universitäten durch die Länder nicht grundsätzlich zu gewährleisten ist. Im Bereich von Universitäten und Einrichtungen der außeruniversitären Forschung gibt es auch deshalb erste Modelle über die alte Fixierung von Zuständigkeiten hinweg. Und es geht dabei nicht nur darum, Geld des Bundes für Zwecke einzusetzen, die dann von den Ländern als ausschließlich in ihre Kulturhoheit fallend reklamiert werden. Selbstverständlich muss der Bund das Recht haben, inhaltlich mitzubestimmen, wenn er vom Bundestag zugewiesene Haushaltsmittel einsetzt.
Der Wissenschaftsrat ist die Realisierung einer guten Idee. Das Geheimnis seines Erfolgs liegt darin, dass wissenschaftliche Expertise, praktische Expertise, Erfahrung in Bildungsfragen und Politik aus ihren gewohnten Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern, Ländern untereinander, Wissenschaftlern untereinander und Praxisvertretern untereinander herausgehoben und die Beteiligten zu einem inhaltlich orientierten Konsens gezwungen werden, wenn sie erfolgreich sein wollen. Wie es eine spezifische Borniertheit der Praxis gibt, gibt es eine spezifische Borniertheit von Wissenschaft und Politik, und es mag ein gemeinsamer gesunder Menschenverstand sein, der zu vernünftigen Lösungen verhilft.
Wenn sich allerdings auch dieses Mal wieder das Festhalten am Status quo gegen die Errichtung eines Nationalen Bildungsrats und gegen jede Veränderung im Zusammenwirken von Bund und Ländern durchsetzt, sind die Folgen gravierender als vor fünfzig Jahren: Das deutsche Bildungssystem ist anders als damals über »Bologna« und »Lissabon« stark in das europäische Bildungssystem eingebunden und sieht sich internationaler Konkurrenz weit über Europa hinaus ausgesetzt und zwar mit erheblichen politischen und wirtschaftlichen Folgen. Nicht umsonst sind Bildung und Wirtschaft politisch noch nie so eng miteinander verknüpft und mit erheblichen zusätzlichen Mitteln ausgestattet worden wie heute. Und bei aller berechtigter Skepsis über PISA-Ergebnisse und internationale Rankings von Hochschulen: Es tut nicht besonders gut, Schulen und Hochschulen in Deutschland immer nur im qualitativen Mittelfeld dokumentiert zu sehen!