Bildung als nationale Gemeinschaftsaufgabe
Es gibt kaum ein politisches Feld, bei dem sich die Meinung der Politik derart weit von der Mehrheitsmeinung des Volkes entfernt hat, wie im Bereich des Bildungsföderalismus. Egal welche Umfrage dazu in den letzten Jahren erstellt wurde – mehr als 80 Prozent der Bevölkerung – im Osten mehr als im Westen, Eltern von schulpflichtigen Kindern öfter als andere – fordern mehr Einheitlichkeit, Vergleichbarkeit und Durchlässigkeit im deutschen Bildungssystem. Ja, sogar der Ruf nach Zentralisierung wird lauter.
Wer mit seinen schulpflichtigen Kindern in Klasse 7 z. B. von Sachsen nach Nordrhein-Westfalen oder umgekehrt wechselt, kann ein Trauerlied von den Folgen des Bildungsföderalismus singen: Wahl zwischen Realschule, Sekundarschule oder Gesamtschule, neue Schulbücher, neuer Taschenrechner und im schlimmsten Fall neue Klassenstufe. »Der ganz normale Irrsinn des föderalen Schulsystems in Deutschland« lautet ein Kommentar zu einem Beitrag des Satiremagazins extra 3, in dem diese Probleme plastisch dargestellt werden.1Aber auch eine Mittelschullehrerin, die in Sachsen einen anerkannten Abschluss erworben hat, muss ggf. das Referendariat für die Realschule nachholen, da ihre Ausbildung in Baden-Württemberg nicht voll anerkannt wird. Das ist die Realität der deutschen Bildungslandschaft im 21. Jahrhundert.
Andere europäische Länder – international ohnehin – schütteln darüber den Kopf; Deutschland spielt somit nur eine untergeordnete Rolle, wenn es um Bildung auf dem europäischen Parkett geht. Kein politischer Vertreter kann für »die« deutsche Bildungspolitik sprechen. Alle europäischen Vorschläge müssen in sechzehn Bundesländern abgestimmt werden, bevor eine Entscheidung getroffen werden kann. Ein Eingriff in die föderale Bildungshoheit der Länder wird strikt von den Ländern abgewehrt. Ein Anachronismus in einer Zeit der Globalisierung des Wissens und der Arbeitswelt. Während die OECD mit internationalen Vergleichstests wie PISA & Co. weltweite Vergleichsmaßstäbe für das Kompetenzniveau der 15-Jährigen setzt, tut man sich in Deutschland schwer, einen gemeinsamen Rahmen über alle Schulen im Land zu legen oder auch nur verbindlich zu kooperieren. Detailverliebt werden seit 2003 vor dem Hintergrund des schlechten Abschneidens bei PISA erste bundesweite Bildungsstandards für einzelne Fächer und Schularten von der Kultusministerkonferenz (KMK) beschlossen.2 Zweifelsohne ein wichtiger Schritt, den uns andere föderale Länder wie z. B. Kanada voraushaben. Doch im deutschen föderalen Bildungssystem dauert es länger als ein Jahrzehnt, bis diese Bildungsstandards in der Vielzahl der einzelnen länderspezifischen Curricula tatsächlich umgesetzt und Lehrkräfte auf diesen Systemwechsel vorbereitet sind. Ganz zu schweigen von der Lehramtsausbildung, die an jeder Universität nicht nur unterschiedliche Strukturen aufweist, sondern auch eigenen Schwerpunktsetzungen folgt. Daran haben auch die von der KMK verabschiedeten Bildungsstandards für die Lehramtsausbildung wenig geändert.
Deutschland wird nicht daran gemessen, ob ein einzelnes Land gute oder mittelmäßige Ergebnisse erzielt, sondern ob es als Bildungsnation attraktiv für andere ist und ob die Qualifikation der jungen Menschen aus Deutschland (nicht aus Bayern oder Sachsen) weltweite Anerkennung findet. Ein Kind darf nicht dafür bestraft werden, dass es zufällig in einem ärmeren Land Deutschlands geboren wird und deshalb keine Chance auf einen Krippenplatz, eine Ganztagsschule, einen Ausbildungs- oder Studienplatz hat. Eltern wollen und müssen mobil sein können. Dazu gehört auch, dass sie ohne Anpassungsprobleme die Schule für ihre Kinder von einem Land zum anderen wechseln können.
Und nicht zuletzt wird die Wirtschaft nicht danach fragen, warum es keine ausreichend gut ausgebildeten jungen Menschen in einer Region gibt. Sie wird diese Region nicht als Standort auswählen!
Die 1948 gegründete Kultusministerkonferenz als freiwilliger Zusammenschluss der Kultusminister der Länder ist der Versuch der Selbstkoordination in »Angelegenheiten der Bildungspolitik, der Hochschul- und Forschungspolitik sowie der Kulturpolitik von überregionaler Bedeutung mit dem Ziel der gemeinsamen Meinungs- und Willensbildung und der Vertretung gemeinsamer Anliegen«.3
Die KMK ist und bleibt ein zahnloser Tiger ohne wirkliche Durchsetzungskraft. Bis heute gibt es keine Sanktionsregelungen für den Fall, dass sich ein Land nicht an die Beschlüsse der KMK hält. So kündigte z. B. das Land Nordrhein-Westfalen mit dem Inkrafttreten seines »Hochschulfreiheitsgesetzes« an, dass es nicht mehr in der Lage ist, den seit 1978 geltenden Konsens der »Vereinbarung zur Besetzung von Professoren- und Professorinnenstellen an Hochschulen« einzuhalten. In der Praxis bedeutet dies, dass Abwerbungen von Hochschullehrkräften selbst bei erheblichen vorangegangenen Investitionen der Länder in die Forschungsinfrastruktur unkalkulierbar werden. Ein anderes Beispiel betrifft die Beschlüsse zur gegenseitigen Anerkennung der Lehramtsausbildung. Diese mussten mehrfach korrigiert werden – nicht etwa um gemeinsame Standards festzulegen, sondern um die jeweils bestehende Länderpraxis einzufangen.
Eine mit der Eröffnung der schlechten Ergebnisse der Internationalen Leistungsvergleichsstudien vergleichbare dramatische Situation in der Entwicklung des deutschen Bildungswesens führte in den 70er Jahren zur Änderung des Grundgesetzes. Im Art. 91 b wurde die freiwillige Möglichkeit des Zusammenwirkens von Bund und Ländern in der Bildungsplanung und Forschungsförderung verankert. Die Bund-Länder-Kommission wurde gegründet und ein Deutscher Bildungsrat etabliert. Ein wichtiger, verfassungsrechtlicher Schritt, um in einer gemeinsamen Kraftanstrengung das Bildungssystem in Deutschland voranzubringen. Doch politische Auseinandersetzungen führten letztlich zur Auflösung des Deutschen Bildungsrates und – wie ich selbst 1998 noch feststellen musste – zur traumatischen Ablehnung einer Neuauflage dieses Gremiums.
Statt der Entwicklung einer nationalen Strategie zur Überwindung der sozialen und Leistungsdefizite des deutschen Schulsystems wurde mit der 2006 in Kraft getretenen Grundgesetzänderung als Ergebnis der Föderalismusreform I die letzte verbliebene grundgesetzliche Verankerung der Kooperation zwischen Bund und Ländern im Bereich Schule und teilweise der Hochschule gekappt. Die Bund-Länder-Kommission wurde aufgelöst und möglichen Finanzierungen des Bundes in schulischen Angelegenheiten endgültig ein grundgesetz- licher Riegel vorgeschoben. Ausschlaggebend dafür war einzig und allein der politische Machtanspruch der Länder im letzten verbliebenen Profilierungsfeld – der Bildungspolitik. Ein Finanzminister sagte ganz unumwunden: »Wir wollen keinen goldenen Zügel aus Berlin im Bildungsbereich, der uns zwingt Maßnahmen zu finanzieren, die wir politisch nicht wollen.« Gemeint war damit u. a. das Ausbauprogramm für Ganztagsschulen, das von der rot-grünen Bundesregierung mit 4 Mrd. Euro angestoßen wurde.
Zugespitzt wurde seit der Föderalismusreform 2006 von einem »Kooperationsverbot« zwischen Bund und Ländern in Angelegenheiten der Schule gesprochen. Besonders absurd wurde dies deutlich, als im Jahr 2009 die zur Dämpfung der Wirtschaftskrise eingesetzten Konjunkturpaktmittel II des Bundes zunächst gar nicht und dann nur über den Umweg einer umweltgerechten Sanierung von Schulen und Hochschulen (für Umweltangelegenheiten ist der Bund zuständig) und zur Behebung einer nationalen Notsituation eingesetzt werden durften. Obwohl gerade bei der Hochschul- und Schulbausanierung ein erheblicher Handlungsdruck existiert/e und die Länder und Kommunen selbst nicht in der Lage waren und sind, diesen Sanierungsstau aufzulösen.
Im Bereich der Hochschulen und der Wissenschaft konnte mit Art. 91 b GG zur Bildungsplanung und Förderung der Forschung ein Restbestand der Kooperation in Fällen von überregionaler Bedeutung gerettet werden. Dazu zählt auch, dass Vereinbarungen zur Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens im internationalen Vergleich gemeinsam abgeschlossen werden können. Diese Regelungen sind die Grundlage für die Einrichtung der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz von Bund und Ländern (GWK) und des Wissenschaftsrates. Somit waren Bund und Länder in der Lage, verbindliche Vereinbarungen zum Hochschulpakt mit dem Ziel des Ausbaus von Studienplätzen und zur Exzellenzinitiative abzuschließen. Vergleichbares existiert im Schulbereich nicht.
So kann der Bund zwar dabei behilflich sein, mittels internationaler und bundesweiter Testverfahren sowie im Rahmen eines nationalen Bildungsberichts festzustellen, dass die Bildungsergebnisse in den sechzehn Bundesländern sehr unterschiedlich sind; aber er darf nicht beteiligt werden bei der Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen zur Behebung dieser Defizite. Auch wenn das Bundesbildungsministerium (BMBF) immer wieder versucht, über Projektförderung, die sich direkt an die Schulen wendet, Anstöße zu geben, so ist das weder nachhaltig noch werden damit strukturelle Veränderungen, die der Unterstützung der Landesregierungen bedürften, möglich.
In Anbetracht der beschriebenen unbefriedigenden Situation eines ungleichen und unfairen Wettbewerbsföderalismus im deutschen Schulsystem einschließlich der Lehramtsausbildung, die zu Lasten der Kinder und Eltern geht, ist es dringend an der Zeit, über eine stärker verbindliche, nationale Zusammenarbeit zwischen Bund und den Ländern zu sprechen. Dabei geht es nicht um eine grundlegende Aufhebung des Kulturföderalismus, was einem politischen Harakiri gleich käme und ohnehin aktuell zum Scheitern verurteilt wäre. Es geht mir um die Wahrnehmung einer nationalen Verantwortung für die Entwicklung des Bildungswesens in Deutschland. Es kann nicht im Interesse unserer Verfassung sein, dass der Wohnort der Kinder darüber entscheidet, ob sie eine gute oder schlechte Bildungschance erhalten. Die im Grundgesetz verankerte Pflicht zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse erzwingt geradezu einen gemeinsamen Bildungsrahmen einschließlich der Schaffung der damit verbundenen Voraussetzungen zur Umsetzung.
Der aktuell wieder ins Gespräch gebrachte (nationale) Bildungsrat aus Experten- und Politikkommission kann in Analogie zum Wissenschaftsrat ein Dialoggremium sein, um wissenschaftliche Expertise und politisches Handeln in den Austausch zu bringen. 1999 bis 2001 erarbeitete das von der Bund-Länder-Kommission gemeinsam eingesetzte Forum Bildung4 zwölf Handlungsempfehlungen. Das war der Versuch – noch auf der Grundlage des bis dahin gültigen Grundgesetztes –, so etwas wie einen zeitlich befristeten neuen Bildungsrat gesellschaftlich breit aufgestellt zu etablieren. Mit umfangreicher wissenschaftlicher Expertise und im intensiven Dialog zwischen den Ländervertretungen, dem Bund und zahlreichen gesellschaftlichen Akteuren entstand ein Konsenspapier, das noch heute eine gute Grundlage für die Weiterentwicklung des Bildungssystems in Deutschland darstellt. Doch schon mit dem Ergebnis der Arbeit des Forum Bildung stellte sich die Frage der Umsetzung dieser Empfehlungen. Ein schwaches Instrument, aber dennoch heute mit nützlichen Ergebnissen, ist der nationale Bildungsbericht, der letztlich aller zwei Jahre ein wissenschaftlich untermauertes Spiegelbild der Bildungssituation in Deutschland darstellt.
Mit der heutigen Grundgesetzrealität wäre es allerdings nicht einmal möglich, das Forum Bildung oder einen analog strukturierten Bildungsrat zu etablieren. Ich halte es daher für notwendig, das Grundgesetz derart anzupassen, dass ähnlich wie im Bereich der Forschung (Art. 91 b) eine Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern zur Entwicklung des Schulsystems und des Hochschulsystems möglich wird. Dazu wäre auch eine Erweiterung im Art. 104 b (Finanzhilfen für Investitionen) zur gemeinsamen Finanzierung von Vorhaben im Bildungsbereich erforderlich. Der aktuelle politische Streit, ob diese Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern nur für die Hochschulen (hier insbesondere die Lehre und das Studium) oder nur für die Schulen gelten soll, ist absurd. Beides wäre dringend notwendig.
Ein Dialoggremium allein reicht nicht aus, so wichtig es für die qualifizierte Weiterentwicklung des Bildungssystems ist. Nicht ohne Grund gibt es neben dem Wissenschaftsrat die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz, die auf einem Verwaltungsabkommen von Bund und Ländern5 fußt. Neben den Wissenschaftsministern und -ministerinnen der Länder und des Bundes sind in der GWK auch die Finanzminister und -ministerinnen verankert. Die Beschlüsse der GWK (sofern sie nicht strittig behandelt werden) sind maßgeblich und ersetzen die Zustimmung der Regierungschefs. Damit wird eine hohe Verbindlichkeit erreicht, wie sie sich z. B. beim Hochschulpakt auszeichnet.
Zusammenfassend möchte ich herausheben:
1. Das Grundgesetz muss ein kooperatives Zusammenwirken von Bund und Ländern in allen Bildungsangelegenheiten von überregionaler Bedeutung ermöglichen. Dazu bedarf es einer Novellierung.
2. Die Kultusministerkonferenz als Fachministerkonferenz sollte sich auf den fachlichen Austausch im Sinne der Gestaltung eines kooperativen Föderalismus beschränken.
3. Mit einem Bildungsrat – analog dem »Forum Bildung« – sollte der Dialog zwischen Bildungsministern von Bund und Ländern sowie wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Experten fest etabliert werden.
4. Eine Gemeinsame Bildungskonferenz in Erweiterung der bestehenden Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz kann national bedeutsame Beschlüsse im Bildungswesen auf der Grundlage von Verwaltungsabkommen fassen, die finanziellen Grundlagen dafür vereinbaren und verbindlich in den Ländern und im Bund umsetzen.
- 1Online unter http://www.youtube.com/watch?v=aIABLBj7sk4 (20.9.2012).
- 2Siehe: http://www.kmk.org/bildung-schule/qualitaetssicherung-in-schulen/bildungsstandards/ueberblick.html (20.9.2012).
- 3Geschäftsordnung der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland gemäß Beschluss vom 19.11.1955 in der Fassung vom 2.6.2005.
- 4http://www.blk-bonn.de/forum-bildung-archiv.htm (20.9.2012).
- 5http://www.gwk-bonn.de/fileadmin/Papers/gwk-abkommen.pdf (20.9.2012).