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Editorial


Die Verschiedenheit der Urteile vieler Personen erzeugt gerade dort, wo es um kooperative Formen des Lebens geht, Spannung, Widerstand und dann vielleicht auch, wie im Urbild der elektrischen Phänomene, (Denk)Ströme. Diese Ausgabe unseres Akademiejournals versammelt daher Beiträge zu verschiedenen Themen, in denen sich auf unterschiedliche Weisen zeigt, dass den Fortentwicklungen von tradierten Formen produktive Auseinandersetzungen vorhergehen: Um die Entwicklung geistiger Lebens- und Praxisformen voranzubringen, ist die beste Methode manchmal der Streit, nicht der verfrühte Konsens.


In diesem Heft stellen sich Projekte vor, die, wie die Edition der Briefe Philipp Jakob Speners unter der Leitung des Rektors der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Udo Sträter, oder die Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur unter der Leitung vom Direktor des Instituts, Dan Diner, im Langzeitprogramm der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften gefördert werden. Hinzu kommen Projekte, die, wie das Projekt von Michaela Marek zum großstädtischen Kirchenbau oder das rechtssoziologische Projekt von Burkhard Boemke und Hendrik Schneider zu Compliance-Maßnahmen in der deutschen Wirtschaft, beide angesiedelt an der Universität Leipzig, gefördert werden durch das geisteswissenschaftliche Förderprogramm des Sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst. 


Die Entstehung des sogenannten Pietismus, als Reaktion auf die Schriften Speners, wäre sicher ohne vehemente Diskurse und ohne ›strategische‹ Schachzüge, etwa auch in einer Art Briefpolitik, wohl so nicht möglich gewesen. Das zeigt nicht zuletzt auch der Leipziger Pietismusstreit. Nicht wesentlich anders stellt sich die komplexe Urteilslage bei der Planung und beim Bau von Kirchen im späteren 19. und frühen 20. Jahrhunderts (übrigens nicht nur in Deutschland) dar: Die spirituellen Leitbilder mittelalterlicher Frömmigkeit werden dabei von Kirchenbau­-
ver­einen, Gemeinden, Kirchenvorständen, Landeskirchen oder Bischöfen bis in die Architektur des Kirchenbaus hinein verteidigt. Das geschieht in einer Zeit, in der das Anachronistische der mittelalterlichen Stilformen partiell zwar klar empfunden wird – gerade angesichts der technischen Möglichkeiten des Bauens und der Veränderungen im Status des religiö­sen Glaubens –, die Formen der Neuromanik und Neugotik glaubt man aber dennoch im Interesse der Bewahrung religiöser Kultur in der Moderne durchsetzen zu müssen. Gewisse Parallelen ergeben sich zur Debatte um das rechte Verständnis des religiösen Gehalts zur Zeit des Dresdener Oberhofpredigers Spener: Der Oberhofprediger im 19. Jahrhundert entwickelt, wie andere kirchliche Instanzen, im Sinne des Pietismus und gegen ›katholische‹ Kultformen seine Vorstellung von einem wahren protestantischen Kirchenbau. 


In den Debatten der vielfältigen Akteure beim Kirchenbau in den (neuen) Großstadtgemeinden ging es immer auch darum, eine gemeinsame Sache davor zu schützen, dass sie in der Durchsetzung persönlicher Interessen Einzelner oder auch nur einzelner Meinungen beschädigt wird. In der Etablierung von Compliance-Strukturen geht es im Grunde ebenfalls um ein produktives Zusammenwirken aller Kräfte und die Verhinderung von Unregelmäßigkeiten zu Lasten des eigenen Unternehmens oder der Geschäftspartner. Interessant ist dabei die Frage, ob die Errichtung einer Compliance-Instanz für »whistle blowers« oder heimliche Hinweisgeber wirklich dazu angetan ist, ungesetzliches Handeln in einem Betrieb zu verhindern, oder ob es eher negative Folgen für das Klima im Betrieb hat. 


Die Frage, welche Bildung in der Gesellschaft nötig wird und wie sie in der Schule dem Schüler, in der Universität dem potentiellen Lehrer und daneben dem wissenschaftlichen Nachwuchs und wie sie in der technischen und dienstleistungsbezogenen Berufsausbildung zur Verfügung zu stellen ist, ist weder bloß eine wissenschaftliche noch nur eine politische, sondern eine gesamtgesellschaftliche Frage. Das zeigt die interessante Debatte mit Erich Thies, an der die beiden ehemaligen sächsischen Staatsminister Hans Joachim Meyer und Eva-Maria Stange teilnehmen. Es geht dabei um die Frage, ob es einer Neuauflage eines Deutschen Bildungsrates bedarf, jetzt aber in einer Struktur und Aufgabenstellung, die analog sein sollte zum Wissenschaftsrat, dessen Arbeit ja große Anerkennung gefunden hat. Die Probleme sind vielfältig und heftig umstritten. Sie reichen von der Durchlässigkeit der Schulsysteme und der Kompatibilität der Curricula in den verschiedenen Bundesländern bis zur bisher noch gar nicht ernsthaft diskutierten Frage, wie nach der Bologna-Reform der Studiengänge an den Universitäten und der weitgehenden Eingliederung der Pädagogischen Hochschulen in die Universitäten eine effektive Ausbildung von Lehrern für die verschiedenen Stufen (Grundschule, Mittelstufe, Oberstufe) aussehen soll. 


Wie man sieht, ist eine Akademie der Wissenschaften ein Ort, an dem verschiedenste Fachgebiete, Disziplinen und Denkansätze aufeinandertreffen und ein Gespräch gepflegt wird, das am Ende keineswegs immer gleich in den Konsens münden muss. Wichtiger ist die Anerkennung, dass immer noch vieles gemeinsam zu tun ist, wobei am Anfang die explizite Offenlegung und Artikulation verschiedener Sichten, Aspekte und Ansichten steht. 


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Heft 9 (2012)
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1867-7061

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